"Versorger-Ehe" ein Modell von gestern
Kombination aus Teil- und Vollzeitarbeit im Trend
Schule und Wirtschaft in der Bundesrepublik richten sich noch immer fast ausschließlich nach dem Modell der sogenannten "Versorgerehe", kritisiert der Berliner Sozialwissenschaftler Professor Dr. Hans Bertram. Dabei entspreche dieses Modell, demzufolge Ehefrau und Kinder mit vom Einkommen des Mannes leben, immer weniger der Lebenswirklichkeit der Familien
Die Idee der "Versorgerehe" sei im vorigen Jahrhundert aufgekommen, als sich britische Bergleute - wohl aus Furcht um ihre Arbeitsplätze - für ein Frauenarbeitsverbot stark mache. In der alten Bundesrepublik sei sie erst in den 50er und 60er Jahren unseres Jahrhunderts dominant geworden
Die Versorgerehe sei eine Lösung für die Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Familie gewesen, die zudem die von jeher begrenzte Zahl an Vollzeitarbeitsplätzen berücksichtigt habe. Eine wesentliche Voraussetzung für das Funktionieren dieses Modells sei mittlerweile weggebrochen: Kein junger Berufseinsteiger könne einer jungen Frau heute noch 20, 30 Jahre kontinuierlicher Erwerbstätigkeit garantieren. Die DDR-Variante zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf könne keine echte Alternative sein, da sie wirtschaftlich so wenig effizient sei
Gegenwärtig strebten Ehepaare eine Kombination aus Teil- und Vollzeitarbeit an, die entsprechend der Lebensphasen der Kinder variiere. Die meisten jungen Frauen wünschten sich, ihre Kinder während der ersten drei Lebensjahre selbst zu erziehen, bis zum 6. oder 10. Lebensjahr einer Teilzeitbeschäftigung nachzugehen und danach die Erwerbstätigkeit auszudehnen
Mit diesen Vorstellungen müsse konstruktiver umgegangen werden, fordert Hans Bertram. Er verweist auf starre Kindergartenöffnungszeiten und fehlende Angebote in Grundschulen zum Mittagessen und zur Betreuung in Freistunden
Für seine Wünsche an die Wirtschaft nennt der Sozialwissenschaftler ein Beispiel aus der Welt der Hochschule: Professor könne nur werden, wer über Jahrzehnte hinweg kontinuierlich wissenschaftlich gearbeitet habe. Wer - beispielsweise zur Kinderbetreuung - drei oder vier Jahre ausgesetze, habe keine Chance mehr auf eine Professur. Dabei könne eine solche Zeit für diewissenschaftliche Arbeit sehr befruchtend sein könne
Eine Aufgabe für die Politik sieht der Professor darin, Familien mit mehreren Kindern zu fördern. Unter den gegenwärtigen Bedingungen hätten Familien mit mehr als zwei Kindern so gut wie gar keine Chance, Familie und Beruf zu vereinbaren. Die Drei- und Vierkindfamilie sei praktisch verschwunden. Es müsse zumindest darüber nachgedacht werden, ob Mehrkindfamilien bei einer Verteilung staatlicher Mittel nicht stärkere Berücksichtigung finden könnten
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 27.04.1997