Wachsende Zahl von Anrufern
Telefonseelsorge in Ostdeutschland
Cottbus / Dresden / Erfurt / Halle (fun / kna) - Eine deutliche Zunahme von Anrufen verzeichnen ostdeutsche Telefonseelsorgestellen. "1996 riefen bei uns 5400 Leute an. Diese Zahl ist im ersten Vierteljahr dieses Jahres schon überschritten worden", berichtet der Leiter der Erfurter Telefonseelsorge, Christoph Kuchinke. Das bestätigen auch die Telefonseelsorgen in Cottbus und Halle
Bundesweit gibt es rund 100 Telefonseelsorgestellen, die meisten in ökumenischer Trägerschaft. Unter der evangelischen Rufnummer 1 11 01 und der katholischen Nummer 1 11 02 (gegebenenfalls versehen mit der Vorwahl des Ortes, in dem es eine Telefonseelsorge gibt) können sich Menschen mit Problemen Rat und Hilfe holen. Im Laufe eines Jahres gibt es bundesweit rund eine Million Anrufe. "Am häufigsten rufen Menschen an, die sich einsam fühlen oder nicht wissen, wie es weiter geht", erzählt Susanne Bogosch, Leiterin der Telefonseelsorge Cottbus. Gefolgt von Menschen in Lebenskrisen und mit Partnerschaftsproblemen. "Dann diejenigen, die durch Ereignisse und Unverständnis der Mitmenschen und Umwelt seelisch krank geworden sind. Eine geringere Rolle spielen Krankheit, Sucht, sogenannte Suizidanrufe oder Leute, die Angst um ihren Arbeitsplatz haben", so Frau Bogosch
Manchen Anrufer belastet nicht nur ein einzelnes Problem, meint Eckhard König von der Dresdner Telefonseelsorge: "Wer anruft, befindet sich oft in einer Stabilitätskrise. Da kann dann auch wegen der sozialen Lage im Osten oft sehr vieles rasch zusammenkommen." Religiöse Fragen spielen nach seinen Erfahrungen dagegen in Ost und West höchstens im Hintergrund eine Rolle. Mit einem speziellen Ost-Problem wird die Hallenser Telefonseelsorge zunehmend konfrontiert: Ehemalige Stasi-Mitarbeiter suchen hier das Gespräch über ihre Schuld, sagt Elfriede Weißbach. Ein Gespräch dauert zwischen 20 und 45 Minuten. "Nur in Krisenfällen lassen wir einen Anruf über den Zeitraum von einer Stunde zu", berichtet Christoph Kuchinke
Angefangen hatte alles 1953 in Großbritannien. "Bevor Sie sich das Leben nehmen, rufen Sie mich an: Manison House 9000", inserierte der anglikanische Pfarrer Chad Varah in einer Londoner Tageszeitung. In Deutschland wagten Laien in Berlin und Kassel die ersten Schritte. Ähnlich wie beim englischen Vorbild lautete auch hier das Ziel, Lebensmüde vor dem Selbstmord zu retten. Und ähnlich wie damals sind die Prinzipien die selben: Telefonseelsorge arbeitet anonym, vertraulich und rund um die Uhr
Letzteres ist allerdings in Ostdeutschland noch nicht überall der Fall: In Cottbus sind die Leitungen von 14 bis 6 Uhr besetzt, in Erfurt von 17 bis 6 Uhr. "Angefangen haben wir 1992 von 19 bis ein Uhr", erklärt Christoph Kuchinke. "Die 46 ehrenamtlichen Mitarbeiter arbeiten fast alle noch in ihren Berufen und haben deshalb erst ab dem späten Nachmittag Zeit", erklärt Christoph Kuchinke. Ab Juli können die Anrufer jedoch an die Telefonseelsorgestellen in Gera oder Jena weitergeschaltet werden, so daß rund um die Uhr jemand erreichbar sei. Und dazu kommt eine zweite gute Nachricht: Die Telekom plant nach eigenen Angaben, daß Gespräche mit der Telefonseelsorge vom Sommer an für die Anrufer kostenlos sein sollen
"Innerhalb einer Schicht - die vier Stunden dauert - klingelt das Telefon durchschnittlich drei Mal", so Susanne Bogosch. Die Cottbuser Telefonseelsorge registrierte mehr Anrufe von Frauen als von Männern: "Etwa 60 bis 70 Prozent der Anrufer sind Frauen." Das Alter der Anrufer liege in der Regel zwischen 35 und 55 Jahren
Trotz der jetzt wachsenden Nachfrage hatte die Telefonseelsorge in den neuen Bundesländern zunächst einen schweren Start, denn: Nach wie vor ist die Frage ein heißes Thema, ob und inwieweit beim staatlich organisierten DDR-Vorläufer "Telefon des Vertrauens" die Stasi zugeschaltet war. Wichtig ist für viele Beteiligte nur, daß selbst dann das aufrichtige Bemühen der Mitarbeiter nicht in Frage gestellt werden darf. In Ostberlin und - zuerst - in Dresden entstanden in den 80er Jahren die beiden einzigen kirchlichen Telefonseelsorgestellen. Auch hier kann nicht ausgeschlossen werden, daß Dritte mithörten
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 04.05.1997