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Man kann nicht so recht daran glauben

Eindrücke aus Bischofferode

"Die Macht soll gegeben werden dem gemeinen Volke." Noch steht dieser Spruch des Bauernführers Thomas Müntzer am Eingang des ehemaligen Kalibergwerkes Bischofferode, so wie er dort auch stand, als 1993 hier die Kalikumpel um den Erhalt ihres Werkes kämpften - und dabei bis zum Hungerstreik gingen. Ihr Kampf war erfolglos, im selben Jahr wurde die Kaliförderung eingestellt

Vier Jahre sind vergangen. In dieser Zeit ist hier viel planiert worden, berichtet der Pfarrer von Bischofferode, Dechant Lothar Klapprott. Man sieht es: Auf der rechten Seite der Straße von Bischofferode nach Worbis ragt eine riesige Halde in den Himmel, auf der linken Seite erstreckt sich - nach den noch stehenden Gebäuden des ehemaligen Kaliwerkes und einem Förderturm - eine lange ebene Fläche

Ruhig ist es geworden. Das Vogelgezwitscher wird nur von den vorbeifahrenden Autos und den in der Ferne arbeitenden Baufahrzeugen unterbrochen. Das Pförtnerhäuschen am Tor des Kaliwerkes, an dem ein Transparent vor vier Jahren von der Besetzung zeugte, ist abgerissen. An den Fenstern des Betriebsratsbüros klebt noch ein Spruch aus jenen Tagen "Kali aus Bischofferode: Salz für die Welt, Arbeit für uns!" Auf der anderen Seite des Eingangs unterrichtet eine große Tafel - es finden sich noch mehrere Tafeln dieser Art -über die "Umnutzung des Kaliwerkes", kleine Tafeln rechts und links daneben weisen auf Firmen hin, die jetzt hier ihren Sitz haben, keine zwei Handvoll, von den angestrebten 1000 Arbeitsplätzen keine Spur

Klapprott: Es mache zwar den Eindruck, als ob etwas entstehen solle, aber man könne nicht so recht dran glauben. Und das, was passiert, "steht in keinem Verhältnis zu dem, was die Politiker versprochen haben." Und der Pfarrer holt eine Plastiktüte voller Erinnerungen an den Kampf um das Kaliwerk. Zusammen mit der evangelischen Pastorin von Großbodungen hat er damals an der Seite der Kumpel gestanden. Zwischen Zeitungsartikeln, Redemanuskripten und Predigten findet er einen Zettel, der den Bischofferödern bei einem Besuch im Bundeskanzleramt gegeben wurde -ohne Unterschrift: "In jedem Fall werden die derzeit beim Bergwerk Bischofferode vorhandenen rund 700 Arbeisplätze bis Ende 1995 gesichert. Ziel ist eine Gesamtzahl von 1000 Arbeitsplätzen zu sichen", steht da

Ein bißchen macht es den Eindruck, als sei der Pfarrer resigniert: "Wir gehen dorthin, wo es brennt. Wenn eine Sache erledigt ist, legen wir sie zur Seite." Wahrscheinlich bleibt auch nichts anderes, auch nicht für die früheren Kalikumpel: Einige haben sich selbständig gemacht, andere sind arbeitslos, und wieder andere haben einen neuen Job, viele sind weggezogen. Die gähnende Leere der gardinenlosen Fenster in manchen Neubaublocks der Thomas-Müntzer-Siedlung ist bedrückend. Und manchem der Kalikumpel hängt bis heute sein Engagement um seinen Arbeitsplatz an: 90 erfolglose Bewerbungen, von denen eine ohne Anschreiben zurückkam, nur das Wort "Bischofferode" war unterstrichen. Klapprott: "Die Stimmung ist nicht erhebend.

Und dann fällt das Wort "Perspektivlosigkeit". Dabei scheint die Lage im Eichsfeld gar nicht so aussichtslos: mit einer Arbeitslosenquote im April von 17,4 Prozent schneidet der Kreis gut im Arbeitsamtsbereich Nordhausen ab; die Durchschnittsquote liegt bei 20,2 Prozent. Bischofferode scheint härter betroffen, richtig vergleichbare Zahlen gab es vom Arbeitsamt allerdings nicht. Viel wichtiger als die Zahlen aber sind Erfahrungen: Die Bischofferöder haben eine Situation erlebt, in der von heute auf morgen etwas, was sicher war, plötzlich völlig unsicher wurde. Und die Menschen haben das Gefühl von den Politikern belogen worden zu sein

In Bischofferode geht das Leben weiter. Es gibt ein Autohaus und eine Tankstelle, ein Sonnenstudio und eine Spielothek. Die Disco und die Gaststätte im ehemaligen Kulturhaus gammeln vor sich hin - die Fenster mit Gasbetonsteinen zugemauert - und auf den Treppenstufen zu dem Gebäude, in dem sich damals die Hungerstreikenden aufhielten, wächst Gras. Gegenüber dem ehemaligen Haupteingang stehen zwei Loren. "Glück auf!" steht auf der einen, "Bischofferode 1909-1993" auf der anderen. Eine Tafel kündet von einem "Kaliverein", er will die Erinnerungen an diese Zeit wachhalten. Im selben Gebäude das Wahlkreisbüro von Gerhard Jüttemann, Katholik, damals stellvertretender Betriebsratsvorsitzender, heute als Parteiloser für die PDS im Bundestag

Was bleibt? Dechant Klapprott erinnert an einen Satz, den der Erfurter Bischof Joachim Wanke auf der Männerwallfahrt vor wenigen Tagen gesagt hat: "Wir brauchen Politiker, die die Wahrheit sagen. Und", fügt Klapprott hinzu, "wir brauchen eine Bevölkerung, die die Wahrheit verträgt und sie bewältigt.

mh

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 20 des 47. Jahrgangs (im Jahr 1997).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 18.05.1997

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