Künftig mehr Solidarität denn je nötig
Erstes Erfurter Kreuzgang-Gespräch
Erfurt - Wer von der Gesellschaft Hilfe erwartet, muß der Gesellschaft auch etwas dafür geben. Es gilt also "das Prinzip der Gegenseitigkeit zu verwirklichen". Diese Auffassung vertrat im Rahmen des ersten Abends der Erfurter Kreuzganggespräche der in München lebende freie Publizist Dr. Warnfried Dettling. Der studierte Politikwissenschaftler und Soziologe verlangte zum Beispiel einen Vertrag mit der Jugend: Wer von staatlicher Seite ein weitgehend kostenloses Studium erwarte, müsse bereit sein, sich zwei oder drei Jahre seines Lebens der Gesellschaft für gemeinschaftliche Aufgaben, etwa im sozialen Bereich, zur Verfügung zu stellen. Dettling sprach vor rund 40 Zuhörern zum Thema "Vom Wohlfahrtsstaat zur Wohlfahrtsgesellschaft. Das Soziale als Einladung, mehr Demokratie zu wagen". Der Publizist arbeitete in der Vergangenheit unter anderem in der CDU-Bundesgeschäftsstelle und von 1983 bis 1991 im Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit
Insgesamt drei solcher Veranstaltungen finden in diesem Monat im Rahmen der "Kreuzganggespräche 1997" jeweils am Mittwochabend in der Kiliani-Kapelle am Erfurter Dom statt. Dabei werden Bereiche, in denen sich geistige Umbrüche vollziehen, in ihrem Bezug zum kirchlichen Engagement untersucht. Die Veranstalter, das Philosophisch-Theologische Studium Erfurt und das Katholische Forum in Thüringen, wollen mit den Veranstaltungen zu einem tieferen Dialog über zentrale gesellschaftliche Fragen beitragen
Nach Auffassung von Warnfried Dettling ist es dringend nötig, die augenblickliche gesellschaftliche Debatte über die Finanzfragen hinaus weit zu öffnen. Neben der Finanzkrise leide der Sozialstaat vor allem an einer sozialen und an einer kulturellen Krise. "Kann man einen Staat sozial nennen, der es nicht schafft, seinen aus der Arbeitswelt herausgefallenen Bürgern einen Wiedereinstieg zu ermöglichen?" fragte Dettling. Er empfahl ein Bürgergeld, das den Empfängern von Niedriglöhnen zu ihren Gehältern gezahlt werden müßte. Auf diese Weise könnten Arbeitslose zur Aufnahme schlecht bezahlter Tätigkeiten motiviert werden anstatt von der Sozialhilfe zu leben, ohne Erwerbsarbeit zu leisten, so Dettling. Eine kulturelle Krise mache der Sozialstaat insofern durch, als er sich in seiner bisherigen Versorgungsmentalität noch nicht darauf eingestellt habe, daß die versorgten Menschen die gesellschaftliche und ihre eigene Situation mitgestalten wollten und ihre kreativen Ressourcen von der Gesellschaft genutzt werden müßten
Mehr denn je sei künftig Solidarität nötig. Doch "Solidarität wird in Zukunft eher unwahrscheinlicher", so der Publizist. Grund dafür sei die Tatsache, daß die Schere zwischen denen, die Arbeit bei guter Bezahlung haben, und denen, die aus der Erwerbsarbeitswelt herausfallen, immer größer wird. Zunehmend mehr Menschen werden nach seiner Einschätzung nach der Jahrtausendwende nicht mehr über die Erwerbsarbeit in der Gesellschaft integriert sein. Durch den technischen Fortschritt und die Globalisierung werden immer weniger Arbeitskräfte nötig sein, um für alle die notwendigen Güter zu produzieren und die Dienstleistungen zu erbringen. "Große Verlierer", so Dettling, "werden um 2010 / 2020 die wenig qualifizierten Männer sein." Städte und Gemeinden seien gefordert, die von der Wirtschaft freigesetzten und nicht mehr mit einer Lebensarbeits-Anstellung ausgestatteten Menschen aufzufangen. Im Kontext einer sozialen Infrastruktur der Städte etwa müßten ehrenamtliche soziale Dienste organisiert werden, in denen sich Menschen ohne Erwerbsarbeit auch stundenweise engagieren könnten
Weder die weitere Sicherung des derzeitigen Lebensstandards noch die Herstellung der Gleichheit aller sei machbar und könne das Ziel für das nächste Jahrhundert sein. Stattdessen müßten das Bewußtsein und die nötigen finanziellen Mittel geschaffen werden, um auf der Basis von "Fairneß und Billigkeit" die Ausgrenzung von Menschen ohne oder nur mit schlecht bezahlter Arbeit aus der Gesellschaft zu verhindern. Dringend nötig seien sozial verantwortlich handelnde Bürger. "Denn der Sozialstaat dieses Jahrhunderts wird das 21. Jahrhundert nicht überleben", so Warnfried Dettling
Das für dieses Jahr letzte Kreuzganggespräch findet am 28. Mai um 19.30 Uhr in der Kilianikapelle, Domstraße 10, statt. Es spricht Professor Karl Homann, Ingolstadt, über "Die gesellschaftliche Funktion kirchlicher Sozialverkündigung. Perspektiven für das 21. Jahrhundert". Eckhard Pohl
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 25.05.1997