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Wir haben große Geschichte erlebt

Ein Vortrag von Prof. Konrad Feiereis (I)

Einen Blick auf die Situation der Kirche in den neuen Ländern hat der Erfurter Theologe Konrad Feiereis in einem Geistlichen Wort zur Pastoralkonferenz im April in Erfurt gerichtet. Der Tag des Herrn gibt seine Überlegungen (leicht gekürzt) wieder

Unserer Freude über die gewonnene Freiheit hat sich die Ernüchterung hinzugesellt. Wir stellen uns die Frage, ob wir als Christen und als Kirche in der Gesellschaft, wie sie sich inzwischen entwickelt, überhaupt noch gebraucht werden. Der Prozeß der Entchristlichung geht weiter, unser Glaube scheint entbehrlich zu sein, die Anlage des Menschen zur Transzendenz verschüttet. Wie können wir uns gegenseitig in unserem Glauben stärken, unsere Zuversicht auf die Verheißung, die uns geschenkt ist, bewahren, den Mut zum Zeugnis im Alltag festigen

Soeben haben die christlichen Kirchen ihr gemeinsames Wort zur sozialen Lage in Deutschland - nach jahrelangen Vorbereitungen - gesagt; es wurde gelobt, doch scheint es niemanden aufzurütteln. Kürzlich sprach der Bundespräsident eine geharnischte Philip-pica: ein jeder scheint zu denken, daß er nicht gemeint sei. Was endlich muß denn geschehen, damit eine Bereitschaft zum Umdenken und zur Veränderung entsteht

Ist der Untergang des riesigen sowjetischen Imperiums vielleicht nur ein Teil einer noch größeren Wende? Haben wir vielleicht erst den Beginn der Wende erlebt? Und: Hat der Zustand unserer Gesellschaft etwas zu tun mit der offensichtlich nicht aufhaltbaren Säkularisierung? Mit dem Abschied vom Glauben und den vom Christentum vermittelten Werten? An welcher Stelle könnte unser Nachdenken einsetzen und unsere Verkündigung die Menschen erreichen

Ein erster Gedanke sei so formuliert: Für uns Christen ist Geschichte immer zugleich Geschichte Gottes mit uns. Wir haben eine große Geschichte erlebt und erfahren deren Auswirkungen noch für lange Zeit. Der Ausgang dieser Geschichte ist - wenn wir über unser Land hinausblicken auf Europa und die Welt - noch nicht absehbar. Geschichte Gottes mit dem Menschen hat mit dem Wagnis des Glaubens wie mit Verweigerung zu tun, oder nach den Worten der Bibel: mit Leben und Tod. In Deuteronomium 30 (15, 19f) heißt es: "Hiermit lege ich dir heute das Leben und das Glück, den Tod und das Unglück vor ... Segen und Fluch. Wähle also das Leben, damit du lebst, du und deine Nachkommen ... Liebe den Herrn; deinen Gott, hör auf seine Stimme und halte dich an ihm fest; denn er ist dein Leben.

Wir haben in Ostdeutschland zwei Diktaturen erlebt und untergehen sehen, und das über einen Zeitraum von mehr als einem halben Jahrhundert. Was diese Regimes hinterlassen haben an Tod und Zerstörung, ist mit anderen Epochen der Geschichte nicht vergleichbar. Die einen sagen: wir wollen davon nichts mehr hören; die anderen fragen: Wie konnte das geschehen

Was die beiden Diktaturen bewirkten und hinterließen, ist mehr als ein Fehler der gesellschaftlichen Systeme und mehr als das Hineinschlittern in einen - wie wir wissen - furchtbaren Irrtum. Es war - aus der Sicht des Glaubens - eine Geschichte des Menschen mit Gott, eine Geschichte von Heil und Unheil. Unserer Zeit muß auch diese Botschaft verkündet werden

Die Erfahrung des Glaubens deutet Entwicklungen in Geschichte und Gesellschaft, wenn es sein muß auch als Provokation und als Ärgernis: Der Mensch wählt sich selbst Leben und Glück, oder Tod und Unglück; in seinen eigenen Händen liegt die Entscheidung zwischen Segen und Fluch

Wir bangen heute besonders darum, ob unsere Kinder und Jugendlichen die Tradition des Glaubens und der christlichen Kultur weitertragen werden. Wir sollten den Mut haben, ihnen unsere Erfahrungen mitzuteilen. "Du sollst dich nicht vor anderen Göttern niederwerfen... lhr sollt nur auf dem Weg gehen, den der Herr, euer Gott, euch vorgeschrieben hat, damit ihr Leben habt.

Ich möchte die Erfahrung weitergeben, was mein Glaube mir bedeutet: den Weg des Lebens zu suchen und zu gehen. Ich werde die Erinnerung nie mehr los, daß neben meiner Volksschule eines Tages die Synagoge brannte. Und die Frage bohrt bis heute in mir: Was ist aus meinem jüdischen Mitschüler geworden, der kurz danach aus meiner Klasse und aus meinem Leben verschwand. Ich habe als Meßdiener in die Gesichter von Gefangenen geblickt, im Gottesdienst, in der abgeschlossenen Kirche und seither nie mehr daran gezweifelt, daß Christus auf der Seite dieser gequälten und geschundenen Menschen ist. Und daß ich mich entscheiden muß, zu welcher Seite ich gehören will

Welche Erfahrungen bringen Christen in die Gesellschaft und Zukunft ein, die den staatlich verordneten Atheismus erlebt und durchlitten haben? Ist es eine Botschaft, nicht zuerst die einer Drohung gegenüber den vermeintlich Gottlosen, sondern die einer Erinnerung an eine unvergleichliche Befreiung, die Erfahrung, daß der Weg mit Gott der Weg zum Leben war?

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 21 des 47. Jahrgangs (im Jahr 1997).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 25.05.1997

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