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Aus der Region

Sie sind wie Agenten ...

Ex-Jugendseelsorger Arndt über die "Jugend von heute"

Gregor Arndt war von 1989 bis 1996 Diözesanjugendseelsorger im Bistum Erfurt. Heute ist er Pfarrer in Mühlhausen. Der Tag des Herrn sprach mit ihm über junge Leute heute, kirchliche Jugendarbeit und Seelsorge im Osten Deutschlands.

Sie waren sieben Jahre Diözesanjugendseelsorger. Was kennzeichnet die Situation junger Leute heute?
Es gibt einen Roman von Hans-Joseph Ortheil mit dem Titel "Agenten". Agenten - das ist in diesem Roman eine Chiffre für die Jugendgeneration, die sich in den 80er Jahren entwickelt hat. Was zeichnet einen guten Agenten aus? Er beobachtet, guckt, wo es langgeht, aber er sagt nicht viel. Genau diese Mentalität entdecke ich heute bei den jungen Leuten. Mit großer Flexibilität, Pfiffigkeit und Pragmatik versuchen sie durchs Leben zu kommen. Auch wenn das verwunderlich klingt, ich sehe diese Enwicklung positiv. Wir werden in den nächsten Jahren viele Probleme haben - die Arbeitslosigkeit ist eines davon - da wird man flexibel sein und pragmatische Lösungen finden müssen.
In den 60er und 70er Jahren war die Jugend anders. Da kämpfte man für Frieden in Südafrika. Je weiter die Länder weg waren, desto größer das Engagement. Aber wenn es um die eigene Lebensorganisation im Haushalt bei Vater und Mutter ging... Das hat sich völlig umgedreht. Ich erlebe die jetzige Jugend realistischer, auch wenn es manchmal einen Hauch von Biedermeier und Kleinbürgerlichkeit hat. Die Mode, das Möbelstück oder das Design spielen mitunter eine größere Rolle, als die Frage danach, was in fünf oder sechs Jahren sein wird. Natürlich gibt es da auch ein ganzes Stück Verdrängung.
... und die vielbeschworene Perspektivlosigkeit der Jugend?
Dieses Wort höre ich sehr oft, aber nicht von den Jugendlichen, sondern von den Eltern, Lehrern und denen, die in der Jugendarbeit tätig sind. Wenn die Jugendlichen selbst von Perspektivlosigkeit sprechen, dann in ihrer pfiffigen Art, weil die Erwachsenen dieses Wort so sehr lieben und weil man sich so vielleicht ein paar Liebesdienste wünschen kann. Ich will nicht die Probleme junger Leute bagatellisieren, aber sie gehen anders mit ihnen um als Erwachsene.
Ansonsten gilt: Es gibt heute keine einheitliche Jugend mehr, sondern es gibt verschiedene Jugendszenen, die teilweise überhaupt keine Berührungspunkte miteinander haben. Ein Punker, der mit einer Ratte an einem Springbrunnen sitzt, hat überhaupt nichts zu tun mit der ehrgeizigen Gymnasiastin, die unbedingt Jura studieren will. Die Bandbreite ist sehr weit: Leute mit Ehrgeiz, die ihre Dinge bis zur physischen und psychischen Selbstaufgabe durchziehen, auf der anderen Seite Leute, die sagen, wenn nicht heute, dann morgen oder vielleicht überhaupt nicht. Aber auch deshalb sind diese jungen Leute nicht frustriert. Die Frustrierten um uns herum sind eher die Erwachsenen.
Das klingt ziemlich harmlos. Gibt es nicht auch gefährliche Jugendgruppen?
Für richtig gefährlich halte ich eigentlich nichts. Es gibt verschiedene Extreme, die sich manchmal auch politisch äußern. Die Drahtzieher sind aber nicht die Jugendlichen, sondern die stecken anderswo. Das schließt nicht aus, daß ein Potential junger Leute groß wird, die keine Beschäftigung haben und dann natürlich leicht zu mißbrauchen sind. Auch hier gilt, lieber mit den jungen Leuten sprechen, als sie als Nazis abstempeln. Ein gutes Gespräch ist besser als Ausgrenzung.
Und wie sehen junge Leute ihre Zukunft?
Ich will aus einer Jugendstunde in einer Gemeinde zitieren: "Wir ahnen, daß in 30 oder 40 Jahren hier sowieso einmal alles zu Ende ist und von daher möchten wir gar nicht an das Morgen denken." Ich muß aber hinzufügen: Zu dieser Perspektivlosigkeit kommt immer ein Aber. Für die jungen Leute von heute gibt es keine großen Ideen, aber die kleinen Schritte für den nächsten Tag werden bewußt gegangen.
Wie haben Sie nach der Wende in der Jugendarbeit auf die veränderte gesellschaftliche Situation reagiert?
Für mich waren zwei Punkte wichtig, die sich in dem Motto zusammenfassen lassen: "Offen mit Profil". Auf der einen Seite muß Seelsorge offen für jeden sein, der kommt. Andererseits muß dem, der kommt, auch klar sein, daß sein Gegenüber von der katholischen Kirche kommt und daß ihm das und das wichtig ist.
In beide Richtungen gibt es Extreme: Wenn ich nur noch offen bin, dann gibt es zwar einen katholischen Träger, aber der ist beliebig austauschbar. Weil heute - im Gegensatz zur DDR-Zeit - überall Freiraum ist, brauche ich ein Profil. Die Kehrseite eines offenen Profils nach dem Motto "Was ich glaube, was katholisch ist, das setze ich hier durch!" führt aber schnell in Richtung Fundamentalismus. "Offen mit Profil" - das könnte auch ein Motto für unsere ganze Pastoral sein. Jugendarbeit spielt ja immer so eine Vorreiterrolle.
Aber ist das Profil "Katholisch" - gerade auch in der Jugendarbeit - nicht ein Hindernis, auf Leute zuzugehen, weil es negativ besetzt ist?
Manchmal kann dieses Katholisch-Sein schon blockieren. Aber ich habe es an vielen Stellen als positiv erlebt. Im Landesjugendring beispielsweise war ich einer der wenigen Katholiken. Im Nachhinein kann ich sagen, das hat eine gewisse Akzeptanz geschaffen. Und zur Verabschiedung haben mir meine nichtchristlichen Freunde eine Fahrt nach Rom geschenkt.
Wie das Katholisch-Sein von anderen akzeptiert wird, hängt eng damit zusammen, wie ich die Offenheit gestalte. Vor der Heiligen Kommunion kommt die profane Kommunikation. In unser Gemeindehaus kommen mehrmals in der Woche 30 bis 40 nichtchristliche junge Leute. Natürlich kommt die Frage auf: Gehören die in unser Gemeindehaus? Man kann aber auch fragen: Wo können diese jungen Leute sonst mit Kirche und Christen in Kontakt kommen?
Aber die Zahlen werden sich dadurch auch nicht positiver entwickeln...
Kommunikation zu schaffen, scheint mir außerordentlich wichtig für unsere ganze Pastoral. Das ist ein Mittel gegen die schleichende Depression, die sich breitmacht angesichts der schwindenden Zahlen und von der sogar Priester und Bischöfe betroffen sind. Ständig wird von "nicht mehr" gesprochen, aber das "noch nicht" das fehlt.
Ich denke dann an diejenigen, die hier in Thüringen vor über 100 Jahren die ersten Gemeinden gegründet haben. Das waren ein paar engagierte Christen, ganz wenige. Sie haben eine Schule gebaut, ein Pfarrhaus und eine Kirche. Und auf einmal kamen auch die Leute. Ich denke, wir können mit Gottes Geist rechnen. Auch wenn etwas abgestorben ist, was einem selber sehr wichtig ist, kann es irgendwo wieder einen anderen Neuanfang geben.
Ich mache folgende Erfahrung: Die Leute sind doch irgendwo alle ein bißchen religiös. Nun kann ich sagen: Naja, die haben gerade ein etwas New-Age inhaltiert. Dann kann ich diese Grundreligiosität verteufeln. Ich kann sie aber auch als einen Ausgangspunkt betrachten. Und dann kann es passieren, daß der andere plötzlich irgendwann in einem Gottesdienst erscheint.
In dem Zusammenhang ist mir noch etwas wichtig: Wir sollten die Formen, die wir haben, dann auch nicht wegdrücken. In der Zeit, als ich junge Leute im Freiwilligen Sozialen Jahr begleitet habe - mehr als die Hälfte waren Nichtchristen -, hat es immer ein Morgengebet und am Anfang des Mittagessens einen Kanon gegeben. Gerade diese fremden Formen waren für die Nichtchristen spannend, und haben sie neugierig gemacht.
Haben Sie denn die Hoffnung, Ostdeutschland so wieder neu zu evangelisieren?
Ich habe die Hoffnung, daß christliche Lebenstraditionen auch zukünftig eine Form gelungenen Lebens sind. Wir dürfen uns allerdings nicht allein auf unsere DDR-Kirchengeschichte konzentrieren, in der die Gemeinde im Mittelpunkt stand. Wir brauchen neue Blickwinkel: Kirche ist mehr als Gemeinde.
Religiosität macht sich an bestimmten Orten und Zeiten fest. Und in der flexiblen Welt, in der wir jetzt leben, stellen wir beispielsweise fest, daß der regelmäßige Sonntagsgottesdienst-Besuch vor allem bei jungen Leuten nicht zur großen Mode gehört. Wir müssen das registrieren und irgendwie auch anerkennen, daß junge Leute heute teilweise ein anderes Wochenendverhalten haben. Deshalb sind sie aber noch keine Nichtchristen. Die Frage ist, wo könnten für sie Berührungspunkte mit Kirche sein. Hier sollte Kirche nicht mehr allein als Gemeinde verstanden werden. Ein Berührungspunkt kann dann - wenn auch immer sehr gescholten - der schulische Religionsunterricht sein. Andere Berührungspunkte könnten Wallfahrten sein oder Orte, die so etwas wie religiöse Sammelpunkte sind. Ein Beispiel: In der Gegend zwischen Nordhausen, Bleicherode und Greußen - da ist so ziemlich alles Wüste einschließlich geistiger Wüste. In Großlohra haben plötzlich Jugendliche angefangen die traditionelle Vesper zu beten. Inzwischen kommen dort Monat für Monat 70 bis 80 junge Leute zusammen. Das zeigt außerdem: Die Berührungspunkte müssen nicht neu erfunden werden. Wir haben eine reiche Tradition, die vielleicht nur wiederbelebt werden muß.
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Offenes Pfarrhaus für jedermann, monatliche Vesper statt regelmäßiger Sonntagsgottesdienst - das muß doch die Kritiker auf den Plan rufen, die sagen, das sei nicht mehr katholisch. Was würden Sie Ihnen antworten?
Wir sollten uns nicht gegenseitig mit Begriffen und Klischees ausspielen. Es muß in unserer Seelsorge verschiedene Bereiche geben, und die Übergänge sind fließend.
Gibt es in der Jugendarbeit bestimmte Strukturen, die wichtig geworden sind.
Mir hat damals die Unterscheidung zwischen Jugendbildungsarbeit, Jugendgruppenarbeit und offener Jugendarbeit geholfen, wobei die Grenzen fließend sind. Wir haben die Jugendbildungsarbeit im Erfurter Jugendhaus St. Sebastian und im Marcel-Callo-Haus in Heiligenstadt fortgesetzt, wohlwissend, daß die Zahlen vielleicht geringer werden. Bildungsarbeit findet freilich auch in den Gemeinden statt im Religionsunterricht, im Firmunterricht oder mit thematischen Angeboten.
Neben der Jugendbildung war uns der Aufbau von Jugendgruppen besonders wichtig. Hier spielen auch die Verbände eine wichtige Rolle. Anfangs gab es da viele Vorbehalte seitens unserer Gemeinden. Wir haben gesagt, jede Gruppe hat ihre Berechtigung, die Schönstatt-Mädchen haben ihren Stil und die Malteser-Jugend hat ihren Stil. Und wenn es ihnen gelingt, Kontakt zwischen den jungen Leuten zu schaffen, dann ist das okay und dann muß man nicht gleich fragen: Was bringt das für den Gottesdienst.
Der dritte Schwerpunkt war die offene Arbeit. Interessant ist, daß die offene Arbeit gerade dort stattfindet, wo es auch Jugendgruppen gibt. Der, der in einem Jugendverband ist, steht dann gleichzeitig am Tresen in einem offenen Jugendtreff. Hier zeigt sich, daß sich alle drei Bereiche verzahnen. Natürlich stellt man immer mal fest, daß es hier oder da ein bißchen zuviel oder zuwenig gibt.

Interview: Matthias Holluba

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 22 des 47. Jahrgangs (im Jahr 1997).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 01.06.1997

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