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Heilung durch den Geist

Vortrag von Prof. Feiereis (II)

Der Tag des Herrn dokumentiert in dieser Ausgabe einen weiteren Teil des Vortrages des Erfurter Theologen Konrad Feiereis zu Kirche und Christsein heute (Teil 3 und Schluß in der nächsten Ausgabe)

Ein zweiter Gedanke: Der Glaube als Weg zum Sinn. Wir erinnern uns gegenseitig oft an den Sommer und Herbst 1989. Uns stehen Menschen vor Augen, die um jeden Preis weg wollten und weggegangen sind, buchstäblich mit einer Papiertüte über die ungarische Grenze. Wir versuchten, Christen zum Bleiben zu ermutigen. Ich werde nie ver-gessen, wie mir einer förmlich entgegenschrie: "Ich will hier nichts mehr verändern." Es gab auch Christen, die im Hierbleiben keinen Sinn mehr sahen

Heute begegnen uns Menschen, die die Wiedervereinigung bedauern oder gar verwünschen. Deren Leben wurde auf den Kopf gestellt; für nicht wenige unserer Mitbürger hat sich seither alles verändert. Es begegnen uns Menschen, die sehen ihr Leben von 1989 her mit Jubel, andere mit Jammer. Wo liegt im Urteil über unser Leben die religiöse Dimension? In der Bewahrung oder im Verlust unseres Lebenssinns. Dem einen wurde alles aus der Hand geschlagen, was er als Zentrum seines Lebens betrachtete, er findet vielleicht keinen neuen Sinn mehr. Der andere sieht die nie geahnten und zuvor für unerreichbar gehaltenen Möglichkeiten vor sich, sein Leben zu entfalten, sich weiterzubilden, bis an die Grenzen der Kontinente zu reisen, tiefe Sehnsucht zu erfüllen

Die großen Psychologen unseres Jahrhunderts lehren uns: Sinn finden wir dort, wo sich Leben lohnt. Wir suchen die Antwort auf die Frage, ob denn das Ganze einen Sinn habe. In einer Gesellschaft, in der Leistung und Geld alles bedeuten, kann schon die Frage nach dem Gesamtsinn als störend empfunden werden. Sinn wird auch nicht gefunden in der radikalen Ausrichtung des Lebens auf Selbstverwirklichung. Sinn gibt es nur in der Akzeptanz der Eigenverantwortung, die das Ich wie den Mitmenschen umfaßt. Wer nur nach Glück und Erfolg gestrebt hat, hat sich dessen Leben gelohnt

Wir stellen einen Rückzug vieler Menschen aus der Verantwortung für andere und das Gemeinwohl fest. Viele fragen: Lohnt sich der Einsatz für eine Gesellschaftsordnung, in der nur individuelles Glück und Erfolg als erstrebens- und darum lebenswert erscheinen? Welchen Sinn soll dann erst der Arbeitslose, die Alleinerziehende, der Behinderte und Kranke dem eigenen Leben abgewinnen? Die Gegenwartsphilosophie nennt die Sinnkrise und den Sinnverlust die existentielle Krise der modernen Gesellschaft

Wer, wenn nicht der Christ, kann die religiöse Dimension der Sinnfrage erschließen? Wenn wir vor einem radikalen Umbruch in der Gesellschaft stehen, was haben wir als Christen dazu zu sagen

Die Sinnfrage mündet in die religiöse Dimension: Woher komme ich, wohin gehe ich, was bleibt von den Spuren meines Lebens zurück? Es gibt einen Sinn, der in sich selbst ruht. Hier werden Wert und Lust nicht miteinander verwechselt. Sinn kann nur erfahren werden in Bezug auf einen Wert. Soll es unmöglich sein, Werte neu zu entdecken, zum Beispiel den Wert von Selbstlosigkeit und Hilfsbereitschaft, den Wert von Kunst, Musik und Kultur, den Wert der Bibel und ihrer Botschaft, von christlicher Gemeinsamkeit und Gemeinschaft

Ich traf einen jungen Menschen, der nach dreijähriger Berufsausbildung einen Förderkurs an einem Thüringer Gymnasium besucht und das Abitur ablegen wird. "Ich habe gut verdient", sagte er mir, "aber ich habe gemerkt, daß ich mir immer noch mehr und noch mehr gewünscht habe und eine Erfüllung materiell nicht eintreffen wird. Ich habe jetzt mein Leben umgedreht. Ich wollte kennenlernen, wovon ich nicht wußte, daß es das gibt: Bildung, Geschichte, Religion, vor allem: Neue Beziehungen zu Menschen von ähnlichem Interesse." Dieser junge Mensch hat Werte gefunden, die den Sinn des Lebens völlig neu erschließen. Er wird Sinn entdecken, der nicht von außen kommt und nicht abhängig ist von einem außerhalb liegenden Zweck. Er hat das bisherige Leben loslassen können und so ein neues gefunden

Der Glaube sagt uns, daß jeder Teil-sinn seine Erfüllung in einem Gesamtsinn findet. Die Krise der Gesellschaft liegt nicht zuletzt in der Verabsolutierung von dem, was wir individuell als Teilsinn betrachten. Wird dieser genommen, zerbricht die Grundlage der alltäglichen Existenz. So können sich Aggressivität, Egozentrik und Kriminalität entwickeln. Viktor Frankl sagt: "Bald wird der Mensch nicht mehr wissen, was er eigentlich will und bereit sein, nur zu wollen, was die anderen tun oder zu tun, was die anderen wollen." Das führe entweder zu Konformismus oder zu Totalitarismus. Die Gesellschaft werde krank, wenn sie des Geistes überdrüssig sei; die Heilung einer kranken Gesellschaft aber sei nur durch den Geist möglich; dieser aber müsse sich die Religion zur Verbündeten machen

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 22 des 47. Jahrgangs (im Jahr 1997).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 01.06.1997

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