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Aus der Region

Segen oder Fluch?

Interview mit Professor Ernst zur pränatalen Diagnostik

"Jedes Kind ist liebenswert - Leben annehmen statt auswählen" - unter diesem Motto befaßt sich die "Woche für das Leben" mit der pränatalen Diagnostik. Der Tag des Herrn sprach darüber mit dem Erfurter Moraltheologen Wilhelm Ernst

Frage: Die einen sprechen von Selektion menschlichen Lebens, die anderen verweisen darauf, daß werdende Mütter Gewißheit über die Gesundheit ihres Kindes erhalten. Pränatale Diagnostik -ein Segen oder ein Fluch

Ernst: In der modernen Medizin ist alles, was neu erforscht wird, zugleich Segen und Fluch. Es ist ein Fortschritt, daß heute ein Kind schon vor der Geburt untersucht werden kann, um festzustellen, ob es gesund ist oder nicht. In über 97 Prozent aller untersuchten Fälle stellt sich heraus, daß ein gesundes Kind zu erwarten ist. Insofern hat die pränatale Diagnostik eine lebenserhaltende Wirkung, als sie den Eltern die Angst nimmt und sie in der Annahme ihres Kindes bestärkt. Außerdem gibt sie den Ärzten schon vor der Geburt die Möglichkeit, Therapien vorzunehmen. Insofern ist pränatale Diagnostik ein Segen. Wo sie mißbraucht wird, um Leben zu vernichten, wird sie zum Fluch

Frage: Wenn das Ergebnis der Untersuchung aber lautet, daß ein Kind mit schweren Behinderungen auf die Welt kommt, ist es dann für die Eltern, die Mutter nicht besser, das Ergebnis gar nicht erst zu erfahren

Ernst: Tatsächlich besteht die negative Seite der pränatalen Diagnostik darin, daß sie zu einer Todesfalle für ein geschädigtes, krankes oder unerwünschtes Kind werden kann. Wenn die Untersuchung eine Schädigung oder Erkrankung des Kindes feststellt, wird in sehr vielen Fällen die Schwangerschaft abgebrochen. Deshalb steht die pränatale Diagnostik unter einer schweren ethischen Hypothek

Und sie ist für die Frau, die sie durchführen lassen will, eine ethische Herausforderung, denn es steht für sie die Frage: Warum will ich diese Diagnose? Will ich sie, um auf mein Kind vorbereitet zu sein und auch dann Ja zu ihm zu sagen, wenn es behindert ist? Oder will ich sie, um - nach der Bestätigung einer vermuteten Schädigung - das Kind durch Schwangerschaftsabbruch beseitigen zu lassen? Manchmal kann das für eine Frau eine kaum zu bewältigende Belastung mit sich bringen. Eine Frau, die sagt, ich nehme mein Kind auf jeden Fall an, kann deshalb selbstverständlich auf eine pränatale Diagnostik verzichten. Sie hat ein Recht auf Nichtwissen

Frage: Die Einstellung der Gesellschaft zu behinderten Menschen fördert nicht gerade das Ja der Eltern zu einem behinderten Kind. Was kann Kirche hier tun

Ernst: Der Wert einer Gesellschaft mißt sich auch an ihrer Einstellung zu behinderten Menschen. Eltern, die durch die pränatale Diagnostik von der schweren Behinderung ihres Kindes erfahren, geraten tatsächlich in eine schwere Konfliktsituation. Die Entscheidung für die Annahme eines behinderten Kindes ist einem starken persönlichen und sozialen Rechtfertigungsdruck ausgesetzt. Hier kann die Kirche durch Beratung helfen. Vor und nach jeder pränatalen Diagnostik muß eine Beratung stattfinden, die positiv auf das Leben gerichtet ist. Die Eltern, die von der Behinderung ihres Kindes betroffen sind, muß die Kirche weiterbetreuen, das kann bis zu materiellen Hilfen gehen

Fragen: Matthias Holluba

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 23 des 47. Jahrgangs (im Jahr 1997).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 08.06.1997

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