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Der Glaube hat uns frei gemacht

Vortrag von Prof. Feiereis (III)

Ein letzter Gedanke gilt der Kirche hier und heute. Der Jesuit Medard Kehl hat in seinem Buch "Wohin geht die Kirche" dafür plädiert, die Kirche möge sich die "Wüstentheologie des Alten und Neuen Testaments wieder neu zu eigen machen." Heute könne das Volk Gottes seine eigene Identität finden im Exodus aus unserer modernen Kultur, in der Abkehr von den Irrwegen dieser Kultur, in der Bereitschaft zum Wagnis eines Zuges durch die Wüste. Die kulturelle Absicherung für die Kirche falle immer mehr weg, der Christ müsse darum bald primär nur aus seiner gläubigen Grunderfahrung leben

lch stelle die Frage: Sind die Christen im Ostblock nicht jahrzehntelang diesen Weg der Ausgrenzung aus der Gesellschaft und im bewußten Nein zu den Grundideen und -strukturen der Gesellschaft gegangen? Setzt sich nicht gerade jetzt - mühsam und allmählich - die Überzeugung durch, daß die Zeit unserer Überwinterung, das geliebte Nischendasein unwiderruflich vorbei ist? Haben wir nicht viele Erfahrungen hinter uns, die die Ortskirchen im Westen erst vor sich haben? Und wo geschieht der Austausch gegenseitiger Erfahrungen, gerade zwischen Ost und West

Einige Stichpunkte seien genannt. In unserem Bewußtsein muß bewahrt bleiben, daß zum Glauben die existentielle Entscheidung gehörte. Und die fing beim Meldezettel in unseren Bildungshäusern an; und schloß die Inkaufnahme schwerster Benachteiligungen in Bildung und Beruf in sich. Christen in unserer Gesellschaft haben es uns vorgelebt: Der Glaube war wertvoll, er war so unverzichtbar, daß er über Abgründe trug

Der Glaube hat uns frei gemacht. Er hat uns in unserer Situation befähigt, einander zu ertragen. Kritik galt im Raum unserer Gemeinden - prinzipiell - nicht als Protest und Ablehnung, als Feindschaft und Zersetzung, wie beim Staat, sondern als Zeichen der Suche nach dem richtigen Weg. Ich erschrecke, wenn Pfarrer verteufelt werden, weil sie sich im Kirchenblatt nur Gedanken darüber machen, wie der Glaube den Fernstehenden nahegebracht werden kann. Ist unsere Fähigkeit, einander zu ertragen und zu verstehen, geringer geworden? Wollen wir das tun, was die Mächtigen mit uns taten: andere ausgrenzen

Kirche hat mit Kultur zu tun. Beide sind nicht miteinander identisch. Aber im Osten sind - wie E. Neubert gerade geschrieben hat - die kulturellen Grundlagen der Kirche überhaupt erst wieder zu schaffen. Diese betreffen zuerst das Verständnis von Religion und Christentum als Bestandteil der eigenen geistigen Herkunft, der eigenen Geschichte. In unserer Gesellschaft gibt es kein Wissen mehr von den Kirchen heute, auch nicht von einer objektiven Kirchengeschichte. Das führte bei uns - wie Neubert zeigt - zu einem Sprachverlust ersten Ranges wie auch zu tendenziell antichristlichen und antiklerikalen Einstellungen. Eine Gesellschaft kann sich aber nicht - mir nichts dir nichts - aus der eigenen Geschichte verabschieden, sie kann nicht die Kirche im Dorf, welche von den eigenen Vorfahren erbaut wurde, dem Verfall preisgeben oder die Verantwortung dafür der christlichen Minderheit überlassen. Eine solche Gesellschaft zerstört die Grundlagen, auf denen sie steht. Anders gesagt: Christentum und Kirche werden stets zur eigenen Tradition und Geschichte gehören, in welcher Form auch immer. Unser Weg liegt nicht im Exodus aus der Zivilisation, sondern in der Hinwendung zum konkreten Menschen und in der Erfüllung der uns gestellten Aufgaben

Gleiches gilt von der Wertebegründung und Werteordnung. Die Zeichen der Gefährdung und des moralischen Zerfalls sind unübersehbar. Das Zusammenleben in einer demokratischen Gesellschaft setzt einen Minimalkonsens in den ethischen Grundüberzeugungen voraus. Woher sollen diese aber hergeleitet werden, wenn nicht aus der für Christen wie Nichtchristen gemeinsamen christlich-abendländischen Tradition? Wir werden heute und morgen die Menschen bei uns nicht zur Taufe bewegen können, wir werden ihnen aber verdeutlichen können, daß eine Gesellschaft ohne die Ideale der Bergpredigt und ohne das Beispiel des Samariters nicht nur verarmt, sondern auf dem Weg zu einer Wolfsgesellschaft ist. In unseren Schulen, in der kirchlichen Bildungs- und Caritasarbeit können wir doch mit den Händen greifen, daß christliches Denken und Verhalten als Alternative zur erfahrenen Egozentrik respektiert und akzeptiert wird. Hier wird gelebter Glaube von den Außenstehenden wenigstens zeichenhaft erahnt

Ein letzter Gedanke: Wir leben in der Region, in welcher die Reformation ihren Anfang nahm. Die Zukunft des Christentums liegt bei uns in einer glaubwürdig gelebten Ökumene. Die Erfahrung zweier Diktaturen haben viele Menschen mißtrauisch gemacht. Sie wollen nie mehr vereinnahmt werden. Sie müssen an den Kirchen erkennen können, daß in ihnen Menschen leben, die für andere dasein und ihre Wege mitgehen wollen. Der Auftrag der Evangelisierung gilt für uns nach der Wende in neuer Weise, durch die Ermöglichung der Freiheit. Unsere Verkündigung ist - anders als zuvor - nicht nur und zuerst an Mitchristen gerichtet, sondern an alle Menschen, mit denen wir das Leben teilen. Sie werden sich dem Evangelium dann zuwenden, wenn sie erkennen, daß ihr eigenes Leben davon berührt ist, daß es um das Heilsein des ganzen Menschen geht

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 23 des 47. Jahrgangs (im Jahr 1997).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 08.06.1997

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