Enklave im Bistums-Grenzland
Gemeinde Rackwitz wurde lange von Dresden-Meißen betreut
Rackwitz (dw) - Die kleine St.-Raphaels-Gemeinde Rackwitz gehört zu Magdeburg, seit die Katholiken dort denken können. Von Seelsorgern des Bistums Magdeburg werden die Rackwitzer aber erst seit kurzem betreut. Jahrzehntelang kümmerte sich die zum Bistum Dresden-Meißen gehörige Nachbargemeinde St. Gabriel Wiederitzsch um die Magdeburger Enklave zwischen Delitzsch und Leipzig. Das Zusammenspiel der beiden Engels-Gemeinden klappte reibungslos
Aktenkundig wurde davon offensichtlich jedoch wenig. Das 40jährige Kirchweihjubiläum feierte Rackwitz am vergangenen Sonntag gewissermaßen "auf Verdacht": Einig waren sich alle, daß die St.-Raphaelskapelle im Frühjahr 1957 durch den Leipziger Propst Ernst Pfeiffer geweiht worden ist. An das genaue Datum konnte sich jedoch niemand mehr erinnern. Weder in den Magdeburger oder Dresdner Bistumsakten noch in der Wiederitzscher Pfarrchronik wurden die Rackwitzer fündig
Das hinderte sie aber nicht, einen dankbaren Rückblick auf ihre bewegte Geschichte zu werfen: Sie erinnerten sich an das Kriegsende, als die meisten von ihnen aus Schlesien, den Sudeten oder Ostpreußen nach Rackwitz oder in umliegende Dörfer kamen
Die ersten Jahre hindurch feierten sie katholischen Gottesdienst in der evangelischen Kirche des Nachbardorfes Podelwitz. Der Wiederitzscher Pfarrer Theobald Beer kaufte am Dorfrand von Rackwitz schließlich eine Fahrradwerkstatt, dessen Inhaber in den Westen ging. Die Rackwitzer Bürgermeisterin gab ihm Grünes Licht für seinen Plan, im Erdgeschoß eine Kapelle zu errichten. Ihre Auflage war, daß er in der oberen Etage Flüchtlinge wohnen ließe. Die übergeordneten staatlichen Stellen betrachteten den Umbau, bei dem Männer der Gemeinde selbst Hand anlegten, dem Anschein nach aber mit weniger Wohlwollen
Im Winter nach der Kirchweih war Pfarrer Beer in einen schlimmen Verkehrsunfall verwickelt. Sein Auto stieß bei Dunkelheit in einer Kurve mit einem entgegenkommenden NVA-Fahrzeug zusammen, bei dem nur der rechten Scheinwerfer brannte, der aber mit aufgeblendetem Licht. Eine Insassin im Wagen des Pfarrers starb, am Tag darauf wurde Theobald Beer verhaftet. Die NVA schob ihm die Schuld an dem Unfall zu; man verurteilte ihn zu einer einjährigen Haftstrafe
Einige Gemeindemitglieder sind bis heute davon überzeugt, daß der Unfall nur ein Vorwand war, Pfarrer Beer zu inhaftieren und daß ein wesentlicher Grund seine politisch unbeugsame Haltung und der nicht ganz legale Kapellenbau war. Anders können sie sich kaum erklären, warum Pfarrer Beer seine Haftstrafe in Torgau in Einzelhaft verbringen mußte. Dies war in der Regel bei politischen Häftlingen üblich
"Es war eine schlimme Zeit", sagt die Goppelner Nazarethschwester Christophera, die in den 50er Jahren noch Hildegard Wilms hieß und in der Seelsorge der Gemeinden Wiederitzsch und Rackwitz half, über die Haftzeit des Pfarrers. Doch gerade durch diese Schwierigkeiten sei die Gemeinde damals "innerlich gewachsen"
Mit Pfarrer Beer halten die Rackwitzer Katholiken noch immer enge Verbindung, obwohl er schon seit 1974 in Regensburg lebt. Mit 95 Jahren widmet er sich immer noch der Lutherforschung, mit der Bischof Otto Spülbeck ihn einst beauftragte, und ist mittlerweile Ehrendoktor der Theologie in Regensburg. Der 1988 verstorbene Schweizer Theologe Hans Urs von Balthasar bezeichnete Beer als "den besten Kenner Luthers unserer Zeit"
In jungen Jahren fühlte er sich der liturgischen Bewegung verbunden. Anders als vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil üblich ließ er deshalb den Altar der Rackwitzer Kapelle in die Mitte stellen, die Stühle auf drei Seiten drumherum. Mittlerweile hat die Kapelle schon mehrere Umbauten und Renovierungen erlebt. Erst kürzlich renovierte Familie Scharf, die seit einigen Jahren über der Kapelle wohnt, den Raum in eigener Initiative
Seitdem die Pfarrei Wiede-ritzsch keinen eigenen Pfarrer mehr hat, sondern von der Pfarrei Leipzig-Gohlis aus mitbetreut wird, gehört Rackwitz auch seelsorglich ins Bistum Magdeburg. Der Pfarrer von Delitzsch betreut die Gemeinde, hat diese Aufgabe aber bis auf weiteres an den weniger überlasteten Pfarrer von Löbnitz abgetreten, der hier alle 14 Tage Gottesdienst hält. Die Verbindung ins Bistum Dresden-Meißen ist aber deshalb keineswegs abgerissen. Nicht nur bei der Kirchweih waren die Wiederitzscher willkommene Gäste. Darüber hinaus vertritt Militärdekan Arnold Pyka, der seinen Wohnsitz in Wiederitzsch hat, aus alter Verbundenheit heraus häufig den Löbnitzer Pfarrer in Rackwitz
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 22.06.1997