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Bistum Magdeburg

Unsichtbares wird sichtbar

Ehrenamtliche Arbeit wird erfaßt

Merseburg (dw) - "Unsichtbare Arbeit sichtbar machen." - Dieses Ziel haben elf Verbände, die seit Januar in einer bundesweiten Aktion dazu aufrufen, Nachweise über ehrenamtlich, freiwillig und unentgeltlich geleistete Arbeit zu führen

Einige Männer und Frauen aus der Merseburger St. Norbert-Gemeinde haben bereits erste Erfahrungen mit dieser Art von Nachweisen gemacht. Annette Thaut zum Beispiel gehört in Merseburg zum Leitungsteam der Katholischen Frauengemeinschaft Deutschlands (kfd), die 1995 die Ehrenamts-Initiative in acht Diözesanverbänden erprobt hatte und daraufhin den Anstoß für die Ausweitung auf Bundesebene gab

Seit zehn Jahren ist Annette Thaut ihren Kindern zuliebe zu Hause. Sie leitet einen Mutter-Kind-Kreis in der Pfarrgemeinde, kümmert sich um den Blumenschmuck in der Kirche und um die Kirchenwäsche, engagiert sich als Elternvertreterin in der Schule ihrer Kinder und gehört einem Kreis an, der während der Sonntagspredigten Kinderkatechesen hält

Wieviel Zeit ihre ehrenamtlichen Dienste in Anspruch nehmen, ist Annette Thaut erst so richtig deutlich geworden, als sie begonnen hat, die geleisteten Stunden aufzuschreiben. Ihr ist bewußt, daß sie all diese Dienste, die ihr großen Spaß machen und die sie persönlich bereichern, nur übernehmen konnte, weil ihr erwerbstätiger Ehemann hinter ihr steht und sie darin bestärkt. Sie findet es wichtig, daß ehrenamtliche Aktivität in der Gesellschaft mehr anerkannt wird und erwartet, daß so mehr Menschen Erfüllung in Ehrenämtern suchen. Ohne Anerkennung sei es schwierig, die Durststrecken zu überstehen, die bei jeder ehrenamtlichen Arbeit dazugehören

Beispielsweise werde es in der Schule immer schwieriger, aktive Elternvertreter zur Mitarbeit zu motivieren. Sie erwartet für sich persönlich nicht, daß ihr die Ehrenamts-Nachweise eine finanzielle Verbesserung bringen. "Ehrenamt soll Ehrenamt bleiben und darf Erwerbsarbeit nicht verdrängen", ist sie überzeugt. Gut findet sie allerdings den Vorschlag der kfd, daß ehrenamtliche Tätigkeit steuerlich und bei den Renten anerkannt werden sollten. Sie findet es erschreckend, daß viele Frauen in Deutschland im Alter verarmen, nachdem sie sich ein Leben lang ehrenamtlich für andere Menschen engagiert haben

Als sie und andere Frauen des Merseburger kfd-Kreises bei Gemeindemitgliedern für die Ehrenamts-Nachweise warb, stießen sie anders als ihre Verbandskolleginnen in den alten Bundesländern nicht nur auf ungeteilte Begeisterung. Einige Gemeindemitglieder könnten sich nicht vorstellen, ihren Dienst, den sie jahrelang im Verborgenen zur Ehre Gottes getan haben, öffentlich zu machen, erzählen die kfd-Frauen. "Über tätige Nächstenliebe redet man nicht", bekamen sie zu hören. Andere hätten das Ziel der Aktion mißverstanden: Sie glaubten, es gehe darum, eine Bezahlung für ehrenamtliche Arbeit zu erkämpfen

Aufgeschlossen für die Nachweis-Aktion zeigte sich unter anderen der Vorruheständler Bernhard Wagner. "Dem wird es nie langweilig. Er ist ein Mensch, der sich immer eine Aufgabe sucht", sagen Gemeindemitglieder über ihn. Einige seiner Aufgaben hat er sich gesucht, die meisten sind ihm jedoch einfach zugewachsen

Der gelernte Schlosser gehört zu einer Gruppe von aktiven Männern, die immer mit Hand anlegen, wenn in der Pfarrgemeinde tatkräftige Helfer gesucht werden. Im Auftrag der Caritas betreut er einen pflegebedürftigen Mann in einem Vorort von Merseburg. Er ist Vorstandsmitglied im Sportverein und gehört dem Sozialausschuß der Stadt an. In der katholischen Gemeinde ist ehrenamtliche Arbeit in den letzten Jahren immer wichtiger geworden. Waren vor einigen Jahren noch drei Geistliche für die St.-Norbert-Gemeinde zuständig, so ist es heute nur noch einer. Die ehrenamtlichen Helfer können dieser Entwicklung durchaus eine positive Seite abgewinnen: "Der verstärkte ehrenamtliche Einsatz hält die Gemeinde lebendig", sagt zum Beispiel Barbara Striegel, die neben ihrer Teilzeiterwerbstätigkeit einen Bastelkreis leitet, im Pfarrgemeinderat und in einem ökumenischen Behindertenkreis mitarbeitet, Vertretung für Religionsunterricht übernimmt und dem Diözesanverbandsvorstand der kfd angehört

Diese Aufgabe ist mit vielen Reisen nach Magdeburg und in andere Bistümer verbunden. Auch die Fahrzeiten verzeichnet Barbara Striegel seit Februar in ihrem Nachweisheft. Manchmal sei es schwierig einzuschätzen, wo ehrenamtliche Arbeit beginnt. Wenn sie während der Sonntagspredigt eine Kinderkatechese hält, schreibt sie die Zeit nicht ins Nachweisheft, da sie den Gottesdienst ohnehin besucht hätte. Wenn sie sich im Vorbereitungskreis für die Kinderkatechesen trifft, schreibt sie das hingegen doch auf

Neben dem Nachweis für ehrenamtliche Arbeit führen die elf katholischen, evangelischen und außerkirchlichen Verbände auch Nachweise über die Teilnahme an Fort- und Weiterbildungsveranstaltungen. Gerade für Frauen, die für die Kindererziehung aus der Erwerbstätigkeit aussteigen, hält Barbara Striegel es für wichtig, daß sie sich weiterqualifizieren. Andernfalls sänken ihre Chancen, wieder erwerbstätig zu werden

Bis zum 15. Januar 1998 sollen alle Nachweise mit einer Bestätigung eines Verantwortlichen (des Pfarrers bei der Gemeindearbeit, des Diözesanverbandes bei katholischer Verbandsarbeit, des Sportvereinsvorsitzenden beim Engagement im Sportverein etc.) an den kfd-Bundesverband nach Düsseldorf geschickt werden. Dort werden sie ausgewertet und in eine Studie eingearbeitet, die unter anderem dem Bundesfamilienministerium zur Verfügung gestellt werden soll

70 000 Nachweise sind Anfang des Jahres veröffentlicht worden - eine Auflage, von der man sich erhofft, daß repräsentative Aussagen über Art und Umfang ehrenamtlicher Arbeit in Deutschland möglich werden, die als Grundlage für politische Entscheidungen über das Renten- und Steuerrecht und über viele andere Fragen dienen könnten

"Nur wenn anerkannt wird, wie umfangreich ehrenamtliche Arbeit ist, wird sie den notwendigen Stellenwert bekommen", formulierte vor einigen Monaten Brunhilde Raiser, Vorsitzende der Evangelischen Frauenhilfe in Deutschland

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 26 des 47. Jahrgangs (im Jahr 1997).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 29.06.1997

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