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Aus der Region

Neue Wende nötig

Mitteleuropa sieben Jahre nach dem Umbruch

Leipzig - Ein kritisches Bild der gesellschaftlichen Situation in ihren Ländern haben Vertreter aus Polen, Tschechien, Ungarn und Deutschland beim 27. Deutschen Evangelischen Kirchentag in Leipzig gezeichnet. Bei einem Forum zum Thema "Acht Jahre danach. Der Weg der Bürger- und Zivilgesellschaft in Mittel-Ost-Europa" sagte der Vertreter Tschechiens und frühere Gesandte seines Landes in Berlin, Frantisek Cerny: "Man fragt sich acht Jahre nach der Wende, ob es nicht wieder eine Wende geben sollte.

Es hätte 1989/90 in seinem Land die Möglichkeit für eine richtige Revolution gegeben, so Cerny. Doch "der Wille, wirklich etwas zu verändern, war sehr viel kleiner als die Erwartungen". Die grundlegenden Anliegen der Charta 77 und anderer Versuche, etwas zu ändern, sind "gegen eine Art postkommunistischen Pragmatismus ausgetauscht" worden. Überlegungen zu neuen Wegen zwischen Staatssozialismus und Kapitalismus sind zu schnell aufgegeben worden, so Cerny. Zudem haben sich in einer Zeit, in der Europa zusammenwächst, Tschechien und die Slowakei getrennt

Mehr Kontinuität als Diskontinuität zum früheren sozialistischen System à la János Kádár beklagte der Budapester Historiker Csaba Gy. Kiss für sein Land Ungarn. Es gibt Bestrebungen, ein neues Bild der kommunistischen Vergangenheit mit ihrem "Gulaschkommunismus" zu zeichnen, in dem die dunklen Flecken wegretuschiert werden. Die frühere Elite, so Kiss, regiert heute unter kapitalistischem Wirtschaftssystem das Land weiter. Eine zahlenmäßig kleine Elite stehe dabei einer immer größer werdenden Zahl Armer, die wenig Chancen haben gegenüber, während der Mittelstand immer mehr verschwinde. Dies müsse negative Folgen für die Entwicklung einer Bürger- und Zivilgesellschaft haben

Eine weniger pessimistische Sicht zeichnete der frühere Botschafter Polens in Deutschland, Janusz Reiter. Reiter, der heute im Zentrum für Internationale Beziehungen in Warschau arbeitet, bezeichnete es als "kleines Wunder", daß Polen heute zu allen seinen Nachbarn gute bis sehr gute Beziehungen hat. Polen habe "sich selbst akzeptiert mit seinen heutigen Grenzen, auch wenn es sich diese nicht frei gewählt hat". Einziger Wunsch Polens in dieser Hinsicht sei es, seinen Platz im Haus Europa zu verankern. Reiter warnte allerdings davor, sich "auf Kosten der eigenen guten Traditionen" auf Europa hin zu öffnen. Insofern sei auch Schadenfreude hinsichtlich der Schwierigkeiten, in denen derzeit die Katholische Kirche in Polen stehe, wenig angebracht: Sie habe in Zeiten der Not "eine vorbildliche Rolle" gespielt und werde als Autorität auch in Zukunft dringend gebraucht, sonst entstehe ein gefährliches "geistiges Vakuum". Denn auch eine liberale demokratische Gesellschaft habe Autoritäten nötig. Der Weg hin zur Bürger- und Zivilgesellschaft sei "ein Weg", so Reiter. Dieser werde gegangen und müsse weiterverfolgt werden. Wer schon jetzt in den nachkommunistischen Ländern eine funktionierende Zivilgesellschaft erwartet, "unterschätzt die Verwüstungen der Kommunisten", "die vor allem auf der Zerstörung von Gesellschaftsstrukturen und nicht nur der Wirtschaftsstrukturen beruhen", sagte Reiter. Wie die Vertreter Tschechiens. Ungarns und Deutschlands sieht Reiter in einer zunehmend umsichgreifenden Armut eine echte Gefahr für die Demokratie

Janusz Reiter verteidigte den Wunsch seines Landes, in die Nato aufgenommen zu werden, und den Militärpakt überhaupt: "Die Nato ist ein Schutz davor, in alte europäische Machtrivalitäten zurückzufallen. Sie schützt die europäischen Völker vor sich selbst", so Reiter

Der Europaabgeordnete Wolfgang Ullmann (MdEP) mahnte eine seines Erachtens für die Bundesrepublik überfällige Verfassungsreform an. Gegen die Klassengesellschaft der Kommunisten habe die Wende die Errichtung einer Bürger- und Zivilgesellschaft angestrebt. "Doch", so Ullmann, "wir finden eine Verbände-, Gruppen-, Konkurrenz- und Abgrenzungsgesellschaft vor". Die Bürger müßten ihre Anliegen wirksamer in politischen Willen umsetzen und angemessen einbringen können. Ullmanns Resumé: "Es hat 1989 eine Revolution stattgefunden, aber sie muß weitergehen." (ep)

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 27 des 47. Jahrgangs (im Jahr 1997).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 06.07.1997

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