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Bistum Görlitz

Eine Antwort auf Rassismus und Gewalt

Modellprojekt Friedensdorf

Storkow - Ein in Deutschland bisher einzigartiges Projekt gegen Rassismus und Gewalt entstand vor gut fünf Jahren in Storkow (Mark), etwa 30 km vor den Toren Berlins: das erste Friedensdorf nach der Wende

Deutsche und Nichtdeutsche bauten Häuser, um Wand an Wand friedlich miteinander zu wohnen. Junge Menschen, manche durch die Folgen der Wende oder den Bosnienkrieg aus der Bahn geworfen, nutzten hier die Chance, den Umgang miteinander und Hilfe zur Selbsthilfe zu üben; sich ein Sprungbrett für einen zu erlernenden Beruf zu schaffen. Heute, nach Abschluß des letzten Bauabschnittes, wohnen hier über 70 Storkower unterschiedlicher Nationalität: Deutsche, Bosnier, Türken, Russen. Einige von ihnen gehören mit zu den Erbauern des Friedensdorfes

Und so fing alles an: 1991 flogen Sowjetsterne - von russischen Kriegsgräbern abgerissen - durch die Fenster eines Storkower Asylantenheimes. Ausländerfeindliche Parolen schallten durch die Nacht. Das Mobile Beratungsteam der Ausländerbeauftragten des Landes Brandenburg, mit Frauke Bostel an der Spitze, suchte mit Verantwortlichen der Stadt nach Wegen gegen diese Welle der Gewalt

Auslöser für den Bau von Wohnhäusern - in denen Menschen, die Gewalt anwenden und die Gewalt erleiden, gemeinsam wohnen sollten - war ein Brief des Vorsitzenden des Komitees Cap Anamur, Dr. Rupert Neudeck, im November 1992 an den Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg, Manfred Stolpe. Diese Idee - von Neudeck selbst als eine Schnapsidee"; bezeichnet - wurde jedoch genehmigt

Gabriele Baum, damals Bürgermeisterin von Storkow, fand Verbündete: ein zahlenmäßig kleines, aber starkes Team. Einstimmig passierte die Friedensdorfidee"; das Stadtparlament. Der gemeinnützige Verein Friedensdorf Storkow e.V. als Bauträger und Verwalter des Friedensdorfes wird gegründet. Gabriele Baum ist heute Vorsitzende des Vereins und Frauke Bostel Stellvertreterin, die einzige Hauptangestellte des Vereins. Der jetzige Bürgermeister der Stadt, Werner Chudak, ist Schriftführer

Den Grundstein für den ersten Bauabschnitt legte Manfred Stolpe, der auch die Schirmherrschaft für das Friedensdorf am 7.10.1993 übernahm. Im Mai 1995 waren die fünf Reihenhäuser und ein Jugendhaus bezugsfertig und der zweite Bauabschnitt - im Juni 96 bezugsfertig - umfaßt 14 Mietwohnungen in einem Wohnkomplex, davon vier Wohnungen behindertengerecht und einige als Maisonette, über zwei Etappen mit Innentreppe ausgeführt. Vom dritten Bauabschnitt wurde in den letzten Wochen das Begegnungszentrum eingeweiht. Der Abenteuerspielplatz ist noch in Arbeit

Das Grundstück, in unmittelbarer Nähe des Storkower Sees, übergab die Stadt dem Verein in Erbbaupacht. Finanziert wurde das Projekt, dessen Baukosten circa 5,5 Millionen Mark betragen, hauptsächlich aus Material, Arbeits- und Geldspenden

Zum 1. Juni 1995 - nach Fertigstellung des ersten Bauabschnittes - hat sich Cap Anamur zurückgezogen, um weitere Projekte - ein Waisenhaus in Kigali in Ruanda - anzukurbeln. Neuer Partner ist seitdem die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung. In hervorragender Weise hilft sie durch Sammlung von Spenden, den Bau mit zu Ende zu bringen. Nach Fertigstellung ist sie bereit, die multikulturelle Arbeit geistig und finanziell weiter zu begleiten

Was hinter dieser nüchternen Aufzählung steht, ist unbeschreiblich. 18 Jugendliche, darunter drei Bosnier, bildeten die erste Jugendgruppe, die beim Bau des Friedensdorfes eine einjährige Grundausbildung im Bauwesen absolviert. Hauptamtlich werden die Jugendlichen von Sozialarbeitern betreut, die bei der Integration der Gruppen Hervorragendes leisten. Die ständige Unterstützung unterschiedlichster Arbeitsgruppen aller Gewerbe, Azubis, ABM-Gruppen ... gestattete einen relativ zügigen Fortgang der Arbeiten, wenn auch die Koordinierung oft mit Schwierigkeiten verbunden war

Der Einladung zu mehreren internationalen Workcamps folgten Jugendliche aus aller Herren Länder. Patrik Castel aus Toulouse, Frankreich, schreibt: Es ist so selten, daß Leute etwas zusammen bauen wollen, anstatt zu zerstören. Deswegen wollte ich lieber hier an diesem Projekt teilnehmen, als in Berlin ein Tourist zu sein";. Matthias Sander aus Genf in der Schweiz lernte ...als Student die manuelle Arbeit kennen, das Neo-Nazi Problem verstehen und die deutsche Sprache."; Die Gästebücher quellen über von solchen und ähnlichen Bekundungen

Lang ist die Liste der Sponsoren und Sachspender: Decken, Zement, Dämmaterial, Dachsteine, Elektroartikel, Kabel, Heizkörper, Nutzholz, Kupferrohr zu vergünstigten Preisen, Sanitärkeramik, Dusch- und Badewannen, Abwasserrohre, Badarmaturen und vieles mehr. Für weit über 1000 Einzelgeldspenden konnte sich das Friedensdorf bisher bedanken. Der Schirmherr des Friedensdorfes, Ministerpräsident Manfred Stolpe, bat seine Gäste anläßlich seines 60. Geburtstages im vergangenen Jahr statt eines Geschenkes um eine Geldspende für das Friedensdorf: über 23 000,- DM kamen zusammen. Weitere Gelder brachten eine Kunstauktion und ein Benefizkonzert. Auch 2 Millionen DM aus dem Vermögen der ehemaligen Parteien der DDR konnten durch Initiative Stolpes zur Verfügung gestellt werden. Trotz eines 800.000 Mark Kredites, den der Verein noch abzuzahlen hat, sind noch eine Reihe von Löchern zu stopfen. Miete zur Deckung der Kosten kommt auch ein. Die Warmmiete liegt bei 10,50 DM

Viele Prominente gaben sich begeistert über das, was hier entstanden ist, die Klinke in die Hand. Unter ihnen war auch Hildegard Hamm-Brücher, die das Friedensdorf Storkow im April 1996 auf einem Festakt in Stuttgart mit dem Theodor-Heuss-Preis und der Theodor-Heuss-Medaille auszeichnete. Das Friedensdorf ist ein wahrhaft mutiges Projekt, das angesichts alarmierend zunehmender ausländerfeindlicher Gewalttaten in und außerhalb von Storkow auf den Weg gebracht wurde";, heißt es in der Begründung

Doch Dummheit und blinde Wut sind nie ganz auszuschließen. So organisierte der Verein eine Telefonkette";. Bei drohender Gefahr durch gewaltbereite Gruppen sind innerhalb weniger Minuten Freiwillige aus der Nachbarschaft zur Stelle, um mit einer Menschenkette das Friedensdorf und ihre Bewohner zu schützen. Denn die Bewohner sind das Wichtigste des gesamten Projektes. Das zu erreichende Verhältnis von 60 zu 40 Prozent (Deutsche zu Ausländern) ist zur Zeit leider nicht vorhanden, da vor kurzem einige bosnische Familien in ihre Heimat zurückkehren konnten und zwei Familien, deren Bleiberecht in Deutschland auslief, in die USA auswanderten

Was sich in den Jahren des Zusammenlebens getan hat, läßt sich nur auf einen Nenner bringen: Nicht die Mentalität der deutschen Gastfreundschaft hat die Oberhand, sondern die der Ausländer, die von Natur aus viel offener ist. Ein Drittel der hier Lebenden sind Kinder, die verschiedene Sprachen sprechen. Die Freunde unserer Kinder heißen Ismet, Metea und Iva";, sagt Jana Wagner. Und Martin Graef bekennt: Wir leben in einer multikulturellen Gesellschaft. Da müssen alle voneinander lernen und aufeinander zugehen. Hier kennen alle Nachbarn einander, man grüßt sich und man hilft sich. Keine Selbstverständlichkeit in unserer Gesellschaft, leider."; Die behinderte Heike Trätner: Man wird im Friedensdorf einfach akzeptiert, wie man ist, was vorher nicht möglich war."; Schon vor zwei Jahren stellte die bosnische Lehrerin Aida Cemanovice, die zusammen mit ihren Eltern, drei Geschwistern und deren Kindern ein Haus des ersten Bauabschnitts bewohnt, fest: Alle sechs Häuser sind wie ein Haus!"; Dieser Satz gilt heute für das ganze Friedensdorf

Wenn Sie die Arbeit des Friedensdorfes mit einer Spende oder mit einer Fördermitgliedschaft im Verein Friedensdorf e.V. unterstützen wollen, hier die Anschrift und Bankverbindung: Gemeinnütziger Verein Friedensdorf e.V. Friedensdorf Nr. 11 in 15 859 Storkow (Mark) Tel. 03 36 76/7 11 20, Kto. 8039100, BLZ 170 624 28, Raiffeisenbank eG Beeskow

Klaus Schirmer

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 32 des 47. Jahrgangs (im Jahr 1997).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 10.08.1997

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