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Aus der Region

Wenn aus Wanderern Pilger werden

Unterwegs auf dem Jakobsweg

Eine Muschel, das ist das Zeichen. Die Jakobsmuschel dient heute als Wegweiser für alle, die auf jahrhundertealten Pilgerspuren der Christenheit durch Frankreich und Spanien wandern. In Santiago de Compostela, unweit der Atlantikküste, wird das Grab des Apostels Jakobus verehrt. Wenn es schon sprichwörtlich heißt: "Alle Wege führen nach Rom", so gilt das für die nordspanische Stadt genauso

Im frühen Mittelalter überstrahlte ihr Ruhm sogar den Mittelpunkt der Alten Welt, und aus allen Gegenden Europas führten Pilgerwege dorthin, die später oft zu Handelsstraßen wurden. Sie querten Deutschland von 0st nach West, sie kamen von Schottland nach dem Kontinent oder von der Mittelmeerküste. In Frankreich bündeln sich drei Stränge und führen von Vezelay über Limoges, von Le Puy und von Arles auf die Pyrenäen zu

Wir, vier Frauen - dreimal Ursula! - und zwei Männer aus Dresden, wollten Le Puy-en-Velay im Departement Haute-Loire zum Ausgangspunkt nehmen. In elf Tagen wollten wir die reichlich 200 Kilometer bis Conques zu Fuß zurücklegen, wo eine riesige romanische Basilka im Tal der Dourdou versteckt liegt. So versteckt, daß sie die Bilderstürmer der Französischen Revolution vergaßen, daß sie noch im vorigen Jahrhundert vor der Benutzung als Steinbruch bewahrt werden mußte. Heute gilt sie als "Site de France", als nationales Kulturerbe

Der Flug nach Lyon ging schneller als die Fahrt im Bummelzug in die "tiefste Provinz", wie der Mann in der Bahnauskunft des Airports Lyon-Santolas amüsiert sagte. Wer fährt schon in ein solches Nest. Dabei kann man es gar nicht übersehen, denn der alte Wallfahrtsort Le Puy wird überragt von drei Felsnadeln. Sogar in der Düsternis eines Gewittergusses zogen sie unsere Köpfe in die Höhe. Jeder fragte sich unwillkürlich, wie denn eine Kirche oder eine mächtige Marienstatue so hoch hinaufgelangen und sich auch noch halten könne. Die Kapelle St. Michel d Aguilhe klebt dort schon seit dem 11. Jahrhundert. Die Baumeister haben ihren Grundriß dem Felsen angepaßt und einen romanischen Raum von unvergleichlicher Schönheit geschaffen. Weiter unten steht die große Kathedrale, die eine Schwarze Madonna birgt. Auch zu ihr führen bereits viele Stufen hinauf. Denn in Le Puy geht alles in eine Richtung: nach oben. Kaiser und Könige haben im frühen Mittelalter solche Treppen auf den Knien erklommen. Sie beugten sich einem Höheren und zeigten es auch

Immer wieder berührte uns unterwegs in Stein bewahrte Geschichte und das fromme Zeugnis vergangener Generationen: Kunstvoll verzierte Pilgerkreuze oder im Halbtagesabstand romanische Kapellen oder Kirchen. Einladung zum Schauen und zum Gebet. In Frankreich ist der Jakobsweg als Wanderweg GR 65 gut markiert. Das rotweiße Zeichen oder an besonderen Kreuzungen die Muschel leiteten uns sicher. Abends schliefen wir meist in einfachen "gites", Wanderunterkünften. Sie nehmen Fuß- und Radwanderer für wenig Geld auf. Außerdem gibt es fast in jedem kleinen Ort ein Hotel oder eine Pension. Den Erfolg der Regionalisierungsprogramme für den lange benachteiligten Mittel-und Südteil des Landes spürten wir besonders in kleinen Ortszentren. Auch die Grandes Randonnes, die Großwanderwege, gehören zu diesem Konzept. Der alte Pilgerweg tut heute also, was er zu Zeiten seiner Entstehung auch getan hat: Er belebt eine Region und ihre Wirtschaft. Aber er soll auch ein geistiges Band durch Europa schlagen und wurde deshalb zum Europäischen Wanderweg erklärt

Für solche wie uns hatte, daß der Jakobsweg in Mode gekommen ist, auch eine Kehrseite: Mehrfach fanden wir die Gite von der Wandergruppe eines Reisebüros belegt vor. Uns blieb das Hotel oder ab und zu die schöne Alternative klösterlicher Angebote, so beispielsweise gleich zu Anfang in Le Puy bei den Franziskanerinnen. Wir staunten, wie sich Dusche, Zweibettzimmer und der Grundriß eines mittelalterlichen Hauses vertrugen. Auch in Estaing fanden wir Herberge und gastliche Gemeinschaft in einer frommen Hospitalite, und in Conques bieten die Mönche mehrere Schlafsäle im Abteigebäude an

Die Besinnung auf den alten Pilgerweg hat die Kirche kreativ unterstützt. Seit 1994 gibt es beispielsweise wieder geistliches Leben in Conques. Vier Prämonstratenserpatres leben heute wieder in der Abtei. Sie betreuen die Pilger, betreiben eine Buch- und Souvenirhandlung und die Ausstellung des Klosterschatzes. Auch an der Orgel läßt sich regelmäßig einer von ihnen hören. Die kostbare romanische Basilika St. Foy, die gotische Höhen vorwegnimmt, ist also nicht verwaist. Wir freuten uns, daß uns einer der Patres am letzten Morgen nach der Messe den Pilgersegen spendete, und fühlten uns, obwohl wir bald die Heimreise antreten mußten, ein Stück zu Hause in diesem lebendigen Kirchenraum. Der wertvolle Klosterschatz blieb erhalten samt dem Reliquiar der hl. Fides (frz. Foy). Die edelsteinbesetzte Statue aus dem frühen Mittelalter verdunkelt für uns heute eher das Bild einer fast kindlichen Märtyrerin, die entlang des Pilgerweges genau wie der hl. Rochus immer wieder verehrt wird. Besonders bei letzterem, der kokett, wie es scheinen will, Bein zeigt, ist das verständlich. Denn er galt als Schutzpatron gegen die Pest und weist auf seine Pestbeule am Knie. In mehreren Kapellen, ihm zu Ehren errichtet, waren wir unterwegs eingekehrt

Rückblickend weiß ich, daß Conques der stärkste Eindruck für mich war: der Anblick von Ort und Basilika unterm abendlichen Regenbogen bei unserer Ankunft, dann das Tympanon über dem Hauptportal mit der Darstellung des jüngsten Gerichts und das Stillewerden im Orgelkonzert am späten Abend

Zwei unserer Gruppe waren schon bis Santiago de Compostela gelangt. Seit 1990 hatten sie im Urlaub mit Freunden aus Würzburg, die schon im Jahr zuvor begonnen hatten, Südfrankreich und Nordspanien durchwandert. Freilich war es dem einen oder der anderen manchmal sauer geworden, und es hatte auch Krisen in der Gruppe gegeben. Was aber bedeutete das, als sie sich vor der Jakobskathedrale in Santiago um den Hals fielen: Geschafft! Die letzte Etappe ist zu Ende. Sie wußten wohl, das galt auch für ein Stück gemeinsamen Lebens. Der ursprüngliche Sinn des Wortes "erfahren" war ihnen aufgegangen, nämlich als Summe dessen, was der "Fahrende", der früher in der Regel zu Fuß unterwegs war, mit Sinnen und Verstand aufgenommen hat

Ursula erzählte mir diesmal unterwegs - wo die Gespräche oft tiefer geraten als gewöhnlich - daß ihr die vorletzte Etappe durchs baumlose kantabrische Hochland, das kaum touristische Abwechslung bietet und den Kräften wie dem Willen einiges abverlangt, besonders wichtig geworden ist: zehn Tage Zeit, über sich selbst nachzudenken, dazu die tägliche Überwindung, nicht aufzugeben. Nun war sie mit ihrem Mann ein letztes Mal auf einer solchen Tour, denn sie wollten den Anfang nachholen. Im Sommer 1989 hatten sie ja noch in der DDR festgeklebt. Für die drei anderen und mich war die Via podiensis, wie die Strecke von Le Puy aus heißt, ein Einstieg und eine erste Erfahrung. Dazu gehörte auch, daß wir von Zeit zu Zeit andere, die gleich uns unterwegs waren, wieder trafen, dann wieder verließen - ein Abbild allen Lebens

Wir durchquerten die einsamen Höhen des französischen Zentralmassivs, die sich nur als Weideland für Schafe und die schönen braunen Aubrac-Rinder eignen. Die Kargheit aber fanden wir geschmückt mit Arnika und Trollblumen, mit Teufelskralle, Knabenkraut und Gelbem Enzian in einer nie gesehenen Fülle. Wir lernten einander besser kennen und spürten auch, wo sich plötzlich eigene Grenzen auftaten, und versuchten, damit umzugehen

Eine geöffnete Tür nach langem Marsch, ein Brunnen nach fast endlosem Aufstieg, die Stille einer Kapelle am Wegesrand oder das Kaminfeuer in der Unterkunft nach einem Regentag - der Wert der einfachen Dinge wurde uns wieder einmal sehr deutlich. Und das Merkwürdigste war wohl, daß wir als Wanderer ausgezogen und eigentlich als Pilger zurückgekommen sind. Die Fußspuren und der Geist der Generationen vor uns haben uns offenbar verwandelt und aufgenommen in die Schar derer, die außerhalb ihrer selbst auf der Suche nach dem Heil sind

Ursula Wicklein

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 34 des 47. Jahrgangs (im Jahr 1997).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 24.08.1997

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