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Aus der Region

Der Mönch und die lila Kuh

Vom Werbemanager zum Klosterbruder

Mächtig und monumental dominiert die barocke Klosteranlage der Benediktiner-Abtei das Hochplateau von Disentis und prägt das Landschaftsbild an der Abzweigung zum Lukmanier-Paß. Seit über 1000 Jahren bestimmen die benediktinischen Mönche das Kultur- und Geistesleben in der rätischen Region des heutigen schweizer Kantons Graubünden entscheidend mit. Und seit seiner Gründung fanden immer wieder junge Männer in das Kloster. Allen politischen und geistigen Stürmen der Jahrhunderte zum Trotz konnte die Kontinuität des Klosters bis heute gewahrt werden. Einer davon, der diese Kontinuität fortsetzt, ist Bruder Magnus, ein ehemaliger Werbemanager, mit bürgerlichem Namen Marcel Raymond Bosshard

Betritt man seine Zelle, so fühlt man sich an das Bild "Mönch am Meer" von Caspar David Friedrich erinnert. Das weite Meer und am unteren Bildrand ein kleiner Mönch. Magnus steht zwar nicht am Meer, sein Blick aus der Zelle geht in 1200 Meter Höhe hinaus. Der Mönch aber sitzt inmitten eines Meeres aus Papier in seiner vier mal sieben Meter großen Zelle, in einer Flut von Arbeit. In der Zelle, die ringsrum mit Bücherregalen ausgestattet ist, hat es kein freies Eck, keinen freien Stuhl und nur ein halb freies Bett. Das Papier wuchert auf dem Gang, denn auch vor der Zelle stapeln sich Druckfahnen, Computerbücher und Fachzeitschriften

Außerhalb seiner Zelle wirkt Bruder Magnus unauffällig und bescheiden. Aber er fällt auf, er eckt an, so, wie er früher aufgefallen und angeeckt ist. Er ist orginell und kantig, hat etwas zu sagen, wenn er meint, sein Gesprächspartner kann seinen Lebensschritt nachvollziehen. Er hält dann mit seinen Ansichten zu seinem eigenen Leben, zum Zustand der Gesellschaft, zur Befindlichkeit und zu den Sehn-Süchten seiner Schülerinnen und Schüler an der Klosterschule nicht hinter dem Berg

Wann sein Weg in die Nachfolge des heiligen Benedikt begann, kann er selbst nicht genau sagen. Vielleicht, als er zu Beginn der 70er Jahre aus einer Laune heraus die St-Patricks-Kathedrale in New York betrat, an der er sonst achtlos jeden Tag vorbei gegangen war. Das dämmrige Licht, der Geruch des erkalteten Weihrauchs, das gedämpfte Gebet weniger Gläubigen, all das kannte er von früher. Es erinnerte ihn an das Klosterinternat von Disentis, wo die Mutter ihn nach dem Tod des Vaters versorgt hatte. "Mich überkam damals das nackte Heimweh, denn man kann nirgens auf der Welt so einsam sein wie mitten in New York", bekennt er im Rückblick. Es war nicht Heimweh nach der Schweiz, sondern eine körperliche schmerzhafte Ahnung davon, daß der Mensch doch irgendwo einen wirklich sicheren Platz haben müßte

Am 12. Dezember 1988 sprach der schweizer Schriftsteller Niklaus Meienberg vor dem Art Directors Club in Zürich. Bosshard kannte ihn von früher. Sie hatten zusammen die Schulbank der "Klosterpenne gedrückt" und waren sich auch später noch öfters über den Weg gelaufen. Meienberg warf an diesem denkwürdigen Abend seinem ehemaligen Schulfreund vor, er verschwende sein Talent und sein Leben für Lächerlichkeiten. Ein Leben für die lila Kuh von Milka und die Dividende der Firma, sollte dies wirklich alles sein

Marcel Bosshard schlich heim, zappte ziellos durch die Fernsehprogramme und dachte an das Kloster Disentis, an die Ruhe, die Verläßlichkeit. Er hatte ein idealistisches Bild von all dem, und er zweifelte daran, ob er, der sich als 16jähriger - wenn auch nicht unter dem Absingen schmutziger Lieder -, so doch zornig von dort verabschiedet hatte, die benediktinische Gastfreundschaft wieder in Anspruch nehmen könne. Er fragte deshalb schriftlich an, der verlorene Sohn, der sich zurückmeldete. Er bekam postwendend Bescheid, und im März 1989 wurde er vom Gästepater begrüßt. Nach einem und einem zweiten Klosteraufenthalt auf Zeit und der "Kandidatur" bat er darum, als Novize in den Konvent eintreten zu können

Das Leben von Marcel Bosshard - "teilweise verrückt und glamourös", so sieht es der heutige Bruder Magnus -, war bis 1989 sehr erfolgreich, wenn man "erfolgreich" im heutigen landläufigen Sinn versteht. Es begann in Sankt Gallen 1941. Seinem Vater, der mit 46 Jahren starb, will er beruflich nacheifern. Seine Mutter sendet ihn, dem Rat guter Freunde folgend, nach Disentis in die Klosterschule. Sie hätte sich damals in ihren kühnsten Träumen und Phantasien nicht vorstellen können, daß ihr Sohn sehr viel später und für immer dahin zurückkehren würde. Ihr Sohn konnte sich das damals auch nicht vorstellen

Da er in den Stapfen seines Vaters Grafiker werden will, besucht er zwei Jahre die Kunstgewerbeschule St. Gallen und tritt dann zur praktischen Ausbildung in das renomierte Atelier Geiser ein. 1962 beginnt seine steile berufliche Laufbahn: Er löst sein eigenes und sehr erfolgreiches Grafik-Atelier wieder auf und tritt in die Dienste der größten Werbeagentur der Welt, in die amerikanische Firma Young and Rubicam New York ein. Zuerst wird er Atelierchef der schweizer Niederlassung in Bern

So neben dem Aufstieg und der Arbeit findet sich eine kurze und gescheiterte Ehe. Der Beruf überdeckt das private Fiasko, aber der "Stachel im Fleisch blieb", das Leben mußte doch noch einen anderen Sinn haben als Werbegrafik zu machen und rund um die Welt allen Reizen und Erfahrungen nachzujagen: "Nach einigen Jahren steilen beruflichen Aufstiegs merkte ich, daß die Arbeit, der Beruf und die Karriere nicht das Wichtigste für mich waren, das ich glaubte suchen zu müssen.

Tiefe Depressionen, bis zur zeitweiligen Hospitalisierung waren die Folge dieser Erkenntnis. Nach halber Genesung stürzte er sich wieder in den Beruf. Die Spirale nach oben drehte sich weiter. Er wurde von seiner Firma von einer Verantwortung in die Nächste und noch Größere geschickt: Bern, Wien, London, Madrid, New York, San Francisco, Los Angeles, und wieder Zürich. Er betreute Marken wie Pampers, Dash, Ariel, Meister Proper, Chiquita, Becks Bier, Union Carbide und Shell. Milka - die lila Kuh, Johnny Walker, Camel, Winston, Ford, Levis und viele viele mehr waren teilweise sein Produkt oder er arbeitete an entscheidender Stelle daran mit. Die letzten Jahre, bevor er 1989 ins Kloster Disentis eintrat, war er in seiner Firma Geschäftsführer und Creative Director, verantwortlich für die gesamten gestalterischen Belange all ihrer Kunden. Beruflich hatte er bis dahin wohl fast alles erreicht, was man in seiner Position erreichen konnte

Viele seiner Schüler streben diesen Erfolg an, und wenn sie ihn fragen, warum man aus solch einem "erfolgreichen Leben" einfach aussteigen und ins Kloster gehen konnte, antwortet ihnen Bruder Magnus, er habe ja schon alles andere gemacht, jetzt habe nur noch das Kloster gefehlt... Der Ruf in ein Leben der Nachfolge Christi als Mönch bleibt ein Geheimnis. Worte zu finden, fällt schwer

Am 19. Juni 1994 also wirft er sich in der vollbesetzten Klosterkirche auf den Boden und gelobt Demut, Beständigkeit und Treue zum Kloster: "Mit Gottes Hilfe bin ich bereit." In diesem Moment geht draußen ein Blitz nieder, und gleichzeitig kracht ein Donnerschlag, wie ihn nur Berggewitter haben können. Es sei fast wie in einem amerikanischen Film gewesen. Der Ex-Werbemanager weiß das: "Das ist Stoff aus dem Alten Testament. Dort wurde noch geblitzt und gedonnert und mit Flammenbuchstaben geschrieben. Aber heute...

Der heilige Benedikt sagt: "Wer diesen Weg einschlägt, soll sich bewußt machen, daß es kein leichter Weg ist." Wer in das Kloster eintritt, der muß das wissen, denn Gefährdungen für das Seelenheil gibt es auch hier. Man macht es frohgemut beim Start, aber die Etappe kann lang werden, und man muß dann den ganzen Eifer zusammennehmen, um dabei zu bleiben und nicht zurückzufallen in jene naive Einfalt, die noch alle Bedürfnisse stillen will

Über sein Temprament kann keiner springen - auch im Kloster nicht. Als Grafiker findet Bruder Magnus auch hier Beschäftigung genug. In der Schule erteilt er Zeichenunterricht und Informatik. So ganz nebenbei wird der Mönch vom Eidgenössischen Departement des Inneren (EDI) zum Präsidenten der Filmjury für TV-Spots und Kino-Werbefilme innerhalb des Wettbewerbs "Die besten Auftragsproduktionen des Jahres" berufen. Talk-Shows und Fernsehteams reißen sich um ihn. Leichte aber wohlwollende Kritik ist seitens einiger Mitbrüder hörbar: "Magnus entwickelt sich zum Jet-Mönch!" Neben der Lehrtätigkeit ist er verantwortlich für die gesamte Grafik im Haus, für die Klosterbühne, er ist Mitglied der Bau- und Kunstkommission, und er ist der Coiffeur für seine Mitbrüder

Ein ruhiges Leben hat er auch im Kloster nicht. "Streß im Kloster", sagt er, und er will es auch nicht anders. Er war halt schon immer so. Nur ist hier - im Gegensatz zu "draußen" - alles eingebettet in die über 1000jährige Regel des heiligen Benedikts, in das Gleichmaß des "ora et labora"

Auf die Frage, die ihm die Schüler so häufig stellen: Warum geht ein so erfolgreicher und wohlhabender Mann ins Kloster?, antwortet er in seiner Zelle: "Ich habe mich immer wieder gefragt: Was soll bloß aus der Welt werden, wenn es nicht Menschen, wie die im Kloster Disentis gibt, die beten und arbeiten?" So gesehen war der Eintritt in den Disentiner Konvent vielleicht nicht das Produkt einer "Midlife-Crisis", sondern wohl eher der "Kulminationspunkt seines Lebens.

"Sein altes Leben war doch...", er holt mit beiden Armen zwischen den Papiertürmen aus, ein Stapel mit Fachzeitschriften bekommt dabei das Übergewicht, wird jedoch von einem Bündel Druckfahnen im Fall gestoppt, "...wie man sagt, wie verhext. Die beruflichen Erfolge kamen immer schneller, immer sicherer, es wurde alles zur Routine. Alle Welt, gute Freunde ebenso wie neidische Kollegen, alle sagten mir, du mußt doch einfach glücklich sein. Ich hörte, daß meine immer größer werdende Unzufriedenheit und meine innerliche Unerfülltheit eine ganz normale und eben typisch heutige Sache wäre, wie sie eben jeder einigermaßen erfolgreiche Manager ertragen müsse." Er fühlte sich wie in einer Hamsterrolle laufen, rat race nennen es die Amerikaner, Rattenrennen

Als er wieder für ein erneutes "rat-race" und einen möglichen Einsatz in Moskau oder Peking vorgesehen wurde, begann er sich ernsthaft mit der Zukunft auseinanderzusetzen: "Ich spürte, jetzt konnte mir niemand mehr, kein noch so guter Freund, kein Psychiater, kein Beichtvater und auch kein geistlicher Führer auf meinem eingeschlagenen Weg der Entscheidung helfen. Nur noch in der bewußt gesuchten Einsamkeit und im Zwiegespräch im Gebet sah ich noch eine zu erhoffende Lösung. Eigentlich war ich völlig am Ende, ich stand vor dem absoluten Nichts, ich war völlig verzweifelt, ich stand vor dem totalen persönlichen Bankrott meines bisherigen Lebens." Und heute? "Ich glaube sagen zu dürfen, daß ich all dies erleben mußte, um Abschied zu nehmen, um sterben zu können, um erstmals wirklich geboren zu werden und um wirklich leben zu können.

Dann ist er schon wieder auf dem Sprung in den Unterricht, in dem er wohl am meisten mit seinem alten Leben konfrontiert wird. Denn von den Schülern kommt immer wieder die Frage: "Wie war das damals mit der lila Milka-Kuh?"

Carsten Kießwetter

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 36 des 47. Jahrgangs (im Jahr 1997).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 07.09.1997

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