Gäste aus Prag und Riga
Herbstwallfahrt in Erfurt
Erfurt (ep) - "Weil Er mich ansieht, kann ich leben." Unter diesem Motto stand am vergangenen Sonntag die diesjährige Herbstwallfahrt zum Erfurter Mariendom. Bei strahlendem Herbstwetter waren am Morgen rund 15 000 katholische Christen aus allen Regionen des Bistums gekommen, um gemeinsam die Eucharistie zu feiern. Zu der Wallfahrt hatte Bischof Joachim Wanke den Prager Erzbischof Miloslav Kardinal Vlk und den Rigaer Erzbischof Janis Pujats eingeladen
Kardinal Vlk, der den Wallfahrtsgottesdienst leitete, erinnerte in seiner Predigt an die jahrzehntelange ohnmächtige Situation der Kirche in der Tschechoslowakei. Doch gerade in der Zeit der Unterdrückung durch die Kommunisten hätten er und viele andere Christen die lebendige Erfahrung gemacht: "Weil Er uns ansieht, können wir leben." Eine große Hilfe dabei seien kleine Gruppen gewesen, die sich - oft verborgen in den Wäldern und Feldern - regelmäßig getroffen und den Glauben miteinander gelebt hätten. "Meine Kraftquelle war der tägliche, ja ständige Kontakt mit dem nahen Gott: In der Eucharistie, gewiß, aber viel mehr noch in der Begegnung mit dem Auferstandenen in einer kleinen Gruppe, mit der ich lebte." Eine wichtige Hilfe, im Glauben standzuhalten, seien auch die großen Treffen der Fokularbewegung, die Mariapolis, in den 70er und 80er Jahren auf dem Gebiet der DDR gewesen, an denen jeweils zwischen 300 und 350 Tschechen und Slowaken teilnehmen konnten. Kardinal Vlk erinnerte die auf dem Domplatz versammelten Gläubigen: Jesus hat zugesagt: "Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen." Jesus habe seine Gegenwart also an die Bedingung geknüpft, daß zwei oder drei sich um ihn versammeln. Dies, so Kardinal Vlk, sei Aufforderung, es auch so zu tun. Die Wallfahrtskollekte war für eine christliche Lehrerausbildungsstätte in Prag und für christliche Kinderliteratur für die Erzdiözese Riga bestimmt
Wie in jedem Jahr gab es nach der Eucharistiefeier vielfältige Zwischenveranstaltungen. Unter der Überschrift "Kirche und Gesellschaft im Umbruch" fanden gleich zwei Veranstaltungen statt: In der Predigerkirche informierten die beiden Gastbischöfe über die Situation der Kirche in ihren Ländern (eigener Beitrag). Im Coelicum diskutierten vor zahlreichen Zuhörern der Präsident des Zentralkomitees der Deutschen Katholiken (ZDK) und Sächsische Wissenschaftsminister, Professor Dr. Hans-Joachim Meyer (CDU), und der stellvertretende Parteivorsitzende der SPD, Wolfgang Thierse, der auch Mitglied im ZdK ist, über die Wichtigkeit eines werteorientierten fairen Streites in Kirche und Gesellschaft, über das notwendige Engagement von Christen in der Gesellschaft, über Gerechtigkeit und soziale Sicherheit. Während Thierse dafür plädierte, die soziale Sicherheit nicht dem Wettbewerb zu opfern, sprach sich Meyer dafür aus, über das notwendige Maß von staatlich garantierter sozialer Sicherheit nachzudenken
Die Feierstunde am Nachmittag griff das Wallfahrtsmotto zunächst mit einem Anspiel zum Thema Partnersuche auf: Es kommt sehr darauf an, wie wir uns gegenseitig ansehen, deutete Bischof Wanke das Anspiel in seiner Predigt. Ohne Wertschätzung kann ein Mensch nicht leben. Der alte theologische Streit zwischen evangelischer und katholischer Kirche um die Frage der Rechtfertigung des Menschen, der heute praktisch beigelegt sei, betreffe genau diese Frage: "Gott liebt uns nicht, weil wir brav sind, sondern weil er gut ist." Ein Wettstreit lohne sich allerdings weiterhin darüber, "wie wir auf seine Liebe antworten".
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 28.09.1997