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Auf den Trümmern der Utopien

Dr. Gerhard Nachtwei über die Evangelisierung Europas (I)

Anläßlich des Partnerschaftstreffens im Rahmen der Magdeburger Bistumswallfahrt Anfang September hielt Pfarrer Dr. Gerhard Nachtwei einen Vortrag zum Thema "Evangelisierung Europas unter den Bedingungen der Post-Moderne und des Post-Sozialismus", den der Tag des Herrn leicht gekürzt dokumentiert

Kaum ein Begriff hat soviel Zuspruch und Widerspruch ausgelöst wie der von Papst Johannes Paul II. programmatisch verstandene Begriff der Neu-Evangelisierung Europas

Zustimmung: Denn die europäische Einigung bedarf eines geistigen Konzeptes, das sich einerseits der jüdisch-christlichen Wurzeln Europas bewußt ist, anderseits sich den neuen Herausforderungen unserer Zeit stellt. Nur so kann Europa seine Zukunftsfähigkeit beweisen. Keineswegs darf die Einigung nur unter ökonomischen Bedingungen betrieben werden

Widerspruch: Ist der Aufruf zu einer Neu-Evangelisierung Europas nicht anachronistisch? Konkret: Ist er nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt, da die Zeiten eines christlichen Europas nach über 1500 Jahren zu Ende zu gehen scheinen? Ist eine Neuauflage der vor über 1000 Jahren geschehenen Missionierung unter heutigen Bedingungen pastoral überhaupt umsetzbar (manche fragen: überhaupt wünschenswert)

Aber was ist das: unsere Zeit? Von vielen wird sie als Post-Moderne bezeichnet... Die Moderne war mit der Vision der Aufklärung aufgebrochen. Für viele war dies eine neue Religion ohne Gott und die den Menschen einengenden Traditionen und Institutionen, allein der Vernunft verpflichtet. Aber die Verheißungen einer besseren Welt sind in Auschwitz, Hiroshima, Gulag zusammengebrochen ... Post-sozialistisch leben wir im Osten Europas nach dem Zusammenbruch der einmal auch für viele Menschen faszinierenden Idee des "Sozialismus". Immer mehr ist heute zu fragen, ob nicht auch die Idee des "Fortschritts" und des "Wohlstands für möglichst viele", die die westeuropäische Entwicklung vorangetrieben hat, ebenso gescheitert ist..

Die Moderne ist am Ende. Das bedeutet: das Ende der großen Ideologien des 19. Jahrhunderts, der verheißungsvollen Utopien, der Hoffnung auf die Lösung aller Weltprobleme in absehbarer Zeit durch den Fortschritt von Wissenschaft und Technik. Aus den Trümmern der Moderne wächst die Postmoderne. Sie ist geprägt durch Unübersichtlichkeit, Ratlosigkeit, ein Nebeneinander selbstgebastelter kleiner Sinnwelten, der Sehnsucht nach ausgefallenen Erlebnissen, einem religiösen und kulturellen Pluralismus, der Individualisierung des Menschen bei gleichzeitiger weltweiter Einheits-Mc-Donald's und Coca-Cola-Kultur. "Wo hört die Coca-Cola-Werbung auf und wo fange ich an?

Gleichzeitig steht die Kirche in Europa vor dem Problem, daß sie ihre die Gesellschaft, Kultur, das alltägliche Leben prägende Kraft weitgehend eingebüßt hat und täglich mehr an Boden zu verlieren scheint. Von der in der postmodernen Gesellschaft aufgebrochenen Sehnsucht nach Religion, nach Lebensbewältigung profitiert sie nicht. Die Kirche steckt viel tiefer in der Krise, als die Forderungen des Kirchenvolksbegehrens es glauben machen

Haben wir das alles nur zu analysieren, gar die schlechten Zeiten zu beklagen? Oder ist unsere Zeit auch Gottes Zeit, damit eine Herausforderung, das Evangelium neu und tiefer zu verstehen? Das hat wohl Johannes XXIII. mit "aggiornamento" gemeint. Eine unserer Zeit vergleichbare Krise erlebte Israel zur Zeit des Exils. Alles, was das Volk Gottes bisher im Glauben getragen hatte, war verloren: das von Gott geschenkte Land, der Tempel, das Königtum. Israel lebte zerstreut, hoffnungslos und ohne Orientierung in einem gewaltigen fremden Reich. "Der Herr hat uns verlassen" (Jes 49, 14). Die Tochter Zion ist Witwe geworden (Klgl 1,1). Sie ist Gottes verlustig gegangen (Jes 40,27, Ps 22,2). Keine Verkündigung konnte dem Volk mehr Hoffnung geben. Mit der alten Evangelisierung ließ sich das Geschehene nicht mehr erklären

Israel war so gezwungen, entweder zu resignieren oder die Herausforderungen des Exils als Anruf Gottes aufzugreifen: die Gegenwart Gottes in der Menschheitsgeschichte zu entdecken (neues Gottesbild und neue Spiritualität), neue Worte für die befreiende Botschaft zu finden (neue Weise der Verkündigung), nach neuen Lebensformen zu suchen, in denen der Glaube an diesen Gott zum Ausdruck kommt (neue Gestaltung der Glaubenspraxis). Die furchtbare Krise des Exils zwang Israel zu einem fruchtbaren Neuaufbruch, zur Neu-Evangelisierung. Gleichzeitig wurden dem Volk Gottes auch die Augen geöffnet für die Schuld und Einengungen der Vergangenheit. Die Krise wurde zu einer Quelle von Hellsichtigkeit und Kreativität. Dies führte dazu, die Erfahrungen mit Gott in der Vergangenheit auf die neue Situation hin auszulegen

Konkret öffnete das den Glauben unter anderem für folgende befreiende Entgrenzungen: Das Volk Gottes kann nicht mehr nur von der Rasse her verstanden werden (Jes 56,3.6-7). Der Tempel Gottes steht allen Menschen offen (Jes 56,7). Das Reich Gottes ist nicht die davidische Monarchie, sondern umfaßt weltweit alle Menschen (Jes 52,7;43,15)

Die Mutlosigkeit des Volkes in der Exilszeit hatte ihren tiefsten Grund nicht in der äußeren Unterdrückung, sondern vielmehr in der inneren Blindheit (Jes 43,8; 42,19), Gottes Gegenwart in der Welt und der Geschichte wahrzunehmen... Aber diese Neu-Evangelisierung setzte damals (wie heute) mutige, offene Menschen voraus: "Denkt nicht mehr an das, was früher war; auf das, was vergangen ist, sollt ihr nicht achten. Seht her, nun mache ich etwas Neues. Schon kommt es zum Vorschein. Merkt ihr es nicht?" (Jes 43,18-19)

Auch für unsere Zeit gilt: Die alte Form der Missionierung trägt nicht mehr. Deshalb spricht der Papst mit Recht von einer Neu-Evangelisierung. ...wir müssen das Evangelium in einer Weise verkünden, die den einzelnen in seiner Individualität und Lebensgeschichte, in seiner Erfahrung ernst nimmt

Wir leben in einer weltanschaulich pluralen Gesellschaft, im Westen mehr in einem religiösen Pluralismus, im Osten mehr in einem Konfessionalismus der Religionslosigkeit (des Atheismus). Diese prägenden Signaturen der Post-Moderne / des Post-Sozialismus zwingen uns zu einer neuen Erfahrung von Gott und Mensch. Gott ist nicht der Gott nur für die Katholiken, auch nicht nur für die Christen oder Religiösen. Diese Herausforderung müssen besonders wir Christen im Osten Deutschlands aufgreifen... Gott ist in Christus Gott aller Menschen... Deutlich hat Johannes Paul II. in seiner ersten Enzyklika "Redemptor hominis" (1979) formuliert: "Der Mensch ist der Weg der Kirche, ... denn der Mensch - und zwar jeder Mensch ohne Ausnahme - ist von Jesus Christus erlöst worden. Christus ist mit jedem Menschen, ohne Ausnahme, in irgendeiner Weise verbunden, auch wenn der Mensch sich dessen nicht bewußt ist...

(wird fortgesetzt)

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 40 des 47. Jahrgangs (im Jahr 1997).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 05.10.1997

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