"Karteileiche" oder Geschenk Gottes
Medard Kehl beim Magdeburger Pastoraltag
Magdeburg (dw) - Der heutige Christ müßte die Qualitäten eines "guten Kundschafters" haben, der das neue Terrain der sich verändernden Gesellschaft kennenzulernen versucht, sagte Pater Medard Kehl, Professor der Frankfurter Jesuitenhochschule, am 1. Oktober beim diesjährigen Pastoraltag des Bistums Magdeburg. Im Mittelpunkt des diesjährigen Treffens der Seelsorgerinnen und Seelsorger des Bistums stand das Thema "Dialog mit Nichtchristen"
Pater Kehl richtete seinen Blick jedoch nicht in erster Linie auf die Ungetauften, sondern auf die in Deutschland wachsende Anzahl der Christen, die einen unverbindlichen Kontakt zur Kirche pflegen: Viele schätzten christliche Werte, ohne sie jedoch selbst verkörpern zu wollen. Sakramente gälten zunehmend als öffentlicher Ausdruck einer diffusen Beziehung zu einer Macht, von der man hoffe, daß es sie gibt, die aber ohne Bedeutung für das tägliche Leben sei
Bei Seelsorgern und anderen aktiven Christen ist nach Medard Kehls Ansicht ein innerer Perspektivenwechsel erforderlich. Das große Feld der sehr unterschiedlichen Sympathisanten des Christentums müsse ernstgenommen und liebevoll angenommen werden. Anstatt abwertend von "Karteileichen" oder "Taufscheinkatholiken" zu sprechen, sollten Seelsorger sich wohlwollend auf die Lebens- und Glaubenssicht ihrer Mitmenschen einlassen
Um Menschen heute einen Zugang zum christlichen Glauben und zur Kirche zu ermöglichen, müßten andere Schwerpunkte gesetzt werden als noch vor wenigen Jahrzehnten: Als wohltuend und befreiend erlebten Zeitgenossen, wenn Christen ihnen ohne Vereinnahmungsabsichten begegneten, sie als Geschenk Gottes empfänden und auf sie hörten. Bei Gemeinschaften wie der Bruderschaft von Taizé sei zu beobachten, daß Gelassenheit eine hohe Ausstrahlungskraft habe
Sehr hoch sei die Sensibilität für eine Übereinstimmung zwischen Verkündigung und gelebter Umsetzung. Heilsam für Gemeinden und anziehend für Außenstehende sei es, wenn eine "Freiheit ermöglichende Freundschaft mit den Armen" gelebt werde. Die Benachteiligten der Gesellschaft seien nicht nur die Erstadressaten der Seligpreisungen, sondern auch die wirkungsvollsten Grenzpflöcke einer ausufern zu drohenden Freiheit. Sie forderten die positiven Kräfte der Freiheit heraus, die zu freier Selbstverpflichtung führten
Dabei dürften die Benachteiligten nicht nur Objekte der Diakonie sein. Gemeinsam mit ihnen sollten alternative Lebensmöglichkeiten aufgebaut werden. Dies praktiziere unter anderem die Schweizer "Arche" mit großfamilienähnlichen Lebensgemeinschaften zwischen Behinderten und Nichtbehinderten. Eine Chance der Kirche könne auch die Pflege einer einladenden, Freude ausstrahlenden christlichen Festkultur sein
Viele Menschen suchten den Kontakt zur Kirche, weil sie ein Fest unter dem Segen Gottes feiern wollten. Der ästhetische Zugang zum Glauben sei zunehmend viel wichtiger als der intellektuelle. Ehe Sinn für die Menschen erkennbar sei, müsse er mit allen Sinnen erlebbar sein
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 12.10.1997