Vom Selbstbewußtsein der Muslime lernen
Professor Tibi beim Katholischen Forum
Erfurt (ep) - Deutsche, die die umfassenden Möglichkeiten in ihrem Land nutzen, müssen auch zu ihrer Verfassung und zu ihrem Gemeinwesen stehen. Zuwanderer haben dies zu akzeptieren und sich an das Grundgesetz und die freiheitlich-demokratische Rechtsordnung zu halten. Derartige Forderungen haben nichts mit Intoleranz zu tun
Diese Aussagen stammen von dem Göttinger Professor Bassam Tibi. Der Politikwissenschaftler, der sich intensiv mit Fragen des Zusammenlebens der Menschen einer Gesellschaft und zwischen den Kulturen - er bevorzugt den Begriff "Zivilisationen" - beschäftigt, sprach am 8. Oktober im Erfurter Bildungshaus St. Martin zum Thema: "Europa und der Islam". Zu dem Vortrag hatten das Katholische Forum im Land Thüringen und der Ausländerbeauftragte der Thüringer Landesregierung, Eckehard Peters, eingeladen
Professor Tibi warnt vor einem wachsenenden Kulturrelativismus, wie er ihn im weitverbreiteten Trend zu multikulturellen Gesellschaften auszumachen glaubt. Trotz immer engeren Zusammenrückens unterschiedlicher Zivilisationen wie etwa der christlich geprägten westlichen Kultur und des Islams müsse an bestimmten Leitwerten festgehalten werden. Andernfalls sei mit massiven Auseinandersetzungen und dem Auseinanderbrechen von Gesellschaften zu rechnen
Der Wissenschaftler geht von acht bis neun Millionen Ausländern in Deutschland aus. Offizielle Statistiken geben rund 5,7 Millionen an. Unter den Migranten seien zahlreiche Anhänger Mohammeds. Insofern spiele der Islam in Deutschland, aber auch in der ganzen westlichen Welt zunehmend eine größere Rolle
Selbst gläubiger Moslem und ursprünglich Migrant verlangt der in Damaskus geborene Bassam Tibi von jedem Einwanderer, der nach Deutschland kommt und hier bleiben möchte, die Anerkennung grundlegender Regelungen wie der des Grundgesetztes. Es könne nicht sein, daß zum Beispiel Menschen türkischer Herkunft alle Vorteile als deutscher Staatsbürger ausnutzen, die deutsche Staatsbürgerschaft verlangten, aber nichts von staatsbürgerlichen Pflichten wissen wollen und als ihre eigentliche Heimat trotzdem weiterhin die Türkei verstehen, so Tibi
Die westliche Welt könne auf Grundpfeiler wie die Trennung von Religion und Politik, auf demokratische Spielregeln, auf Pluralismus auch hinsichtlich der Religionen, auf Toleranz als Recht auf Glaubens- und Gewissensfreiheit nicht verzichten, ohne sich selbst aufzugeben. Über viele Fragen jedoch müßten Menschen christlich-westlicher Prägung gemeinsam mit den Zuwanderen im Dialog stehen, um zu einem gewissen Wertekonsens zu gelangen. Dieser ist für den Politikwissenschaflter als Bindeklammer unerläßlich, um ein würdiges Miteinander von Menschen verschiedener Zivilisationen möglich zu machen
Tibi beklagte eine "heftige Wertekrise" der westlichen Welt. Von einer solchen Situation aus sei es schwer, sich mit Menschen anderer Kulturen auf gemeinsame Werte zu verständigen, zumal Migranten aus anderen Kulturen ihre Werte oftmals "sehr offensiv vor sich her" trügen. Die Deutschen verteidigten ihre Werte entweder nur sehr defensiv oder sie hätten keine Werte mehr. Tibi rief den mehr als 100 Zuhörern im Saal zu: "Das Grundgesetz ist das höchste Gut, was die Deutschen haben." Sie sollten es schätzen und verteidigen
Um im nächsten Jahrhundert in der westlichen Zivilisation den Frieden zu bewahren, gelte es Konzepte zu entwickeln, wie Fremde heimisch gemacht werden können, so der Autor etlicher Bücher über den Islam und die Auseinandersetzung zwischen den Zivilisationen. Einwanderer müßten integriert werden
Der gläubige Moslem wies in diesem Zusammenhang auch auf die Unterschiede zwischen sunnitischem und schiitischen Islam hin. So stellten die Schiiten, die im Iran die Macht innehaben und einen fundamentalistischen Islam vertreten, mit rund 100 Millionen Anhängern nur einen Teil der nach Bassam Tibis Angaben rund 1,3 Milliarden Moslems dar. Deshalb habe sich auch die iranische Revolution von 1979 nicht in andere Länder fortgepflanzt. Tibi: "Eine sunnistische Bevölkerung läßt sich nicht von Schiiten führen." So sei etwa für einen Sunniten ein Selbstmordattentat, wie es des öfteren zum Beispiel in Israel durch muslimische Extremisten praktiziert werde, schwere Sünde, weil Selbstmord verboten sei
Tibi kam in diesem Zusammenhang auf den Islam des Mittelalters in Spanien zu sprechen, der in seiner Toleranz die Buchreligionen Christentum und Judentum als zu schützende Minderheiten gelten ließ. Im Nebeneinander der drei verschiedenen Religionen und Kulturen entwickelte sich damals über mehrere Jahrhunderte hinweg eine blühende Hochkultur
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 19.10.1997