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Aus der Region

Märchen machen Mut

Lebens- und Glaubenshilfe

An der Sommerferien-Malak- tion der Diözesanmedienstel- le Erfurt haben sich 195 kleine Künstlerinnen und Künstler aus dem Bistum beteiligt. Einige Bilder zum Thema "Mein schönstes Märchen" stellt der Tag des Herrn auf dieser Seite vor. Und der Leiter der Medienstelle, Dr. Jork Artelt, gibt Tips zum Umgang mit Märchen

Unsere Welt ist unruhig und hektisch. Es bleibt wenig Zeit für Kinder. Sie lernen zwar viel, sie bekommen sehr viel an materiellen Dingen, ihr Verstand wird von klein auf gefordert. Was aber viel notwendiger ist: Unsere Kinder müssen das Vertrauen gewinnen, daß das Leben gelingen kann, daß Leben Freude macht. Das ist nicht selbstverständlich. Kinder brauchen die Liebe der Eltern, die Wärme ihrer Nähe, das Vertrauen, daß es neben vielen Schwierigkeiten immer wieder Hoffnung gibt, daß alles gut werden kann. Dieses schöne Gefühl der Zusammengehörigkeit vermittelt sich vielleicht nirgends besser, als beim Vorlesen, Erzählen und Kuscheln

Wenn einem Kind ein Märchen erzählt wird, geschieht in der Regel Folgendes: Das Kind sitzt auf dem Schoß, Vater oder Mutter erzählen. Das Kind hört aufmerksam zu. An "gefährlichen" Stellen drückt es sich dicht an den Erzähler, beim guten Ende atmet es tief durch. Und vielleicht bittet es dann: Erzähl es nochmal

Das Kind findet sich in den Märchen selbst wieder. Es ist selbst das Rotkäppchen, der gestiefelte Kater oder das siebte Geißlein. Es macht Erfahrungen, die zum Leben gehören: Angst, Unsicherheit, Ratlosigkeit. Es muß das Leben meistern lernen. Im Bild des Märchens wird ihm gesagt: Mit Schwierigkeiten kann man fertig werden. Wenn der "Wolf" tot ist, ist alles wieder gut. Es gibt in jedem Leben Wölfe und Hexen, die bedrohen. Wenn Eltern Märchen erzählen, sagen sie jedoch dem Kind: Du kannst die Gefahr bestehen. Wollen Kinder ein bestimmtes Märchen immer wieder hören, bedeutet das: Sie möchten immer wieder hören, daß das Böse keine Macht über sie haben muß. Das ist tröstlich

Im Märchen geben Eltern seit Generationen ihren Kindern Lebenserfahrung weiter. Die Hoffnung auf das gute Ende, die Gefahren des Lebensweges, den Mut zu neuem Anfang. Dem heutigen Erwachsenen erschließen sich die Bilder, die Symbole des Märchens aber nicht ohne weiteres. Das Vorschulkind ist ihm darin überlegen

Im Alter zwischen vier und sieben Jahren geben Kinder ihren Eltern und Erziehern vielfach die meisten Rätsel auf, obwohl sie der Sprache gut mächtig sind und sich auch gern und viel äußern. Denn Kinder sprechen zwar so, wie sie es gelernt haben - aber sie denken anders als Erwachsene. Ihr Denken spielt sich gleichsam auf einer anderen Ebene ab, nämlich auf der Bildebene. In Bildern zu denken, haben Erwachsene fast verlernt, deshalb erscheint es ihnen oft so rätselhaft, was die Kinder sprechen. Kinder können aber nicht anders als bildhaft denken und erleben. Konkrete, im Bild erlebbare, in Gefühl und Empfinden nachvollziehbare Vorstellungen sprechen Kinder stärker an als abstrakte Äußerungen und Definitionen der Erwachsenen

Der Vierjährige ist vielleicht noch nicht in der Lage zu sagen "Ich habe Angst", wenn er von jenem unangenehmen Gefühl überfallen wird, das er als Gefühl schon registrieren, aber noch nicht in Worte fassen kann. Aber wenn er zum Beispiel vom Wolf und den sieben Geißlein gehört hat oder von Rotkäppchen, da kommt ihm eine Erleuchtung: "Im Keller ist der Wolf", sagt er, und will nicht mehr allein hinuntergehen

Unverständige Erwachsene be- schimpfen dann die Märchen als "anstrengend", aber das sind sie nicht. Denn die Angst hat das Kind schon vorher gehabt, doch ohne eine Möglichkeit, sie zu bezeichnen. Nun entdeckt es durch das Märchen eine Möglichkeit seinem vorhandenen Gefühl Ausdruck zu verschaffen: Es kann sich in einem Bild mitteilen. In diesem Bild kann das Gefühl verarbeitet, die Angst bewältigt werden. Wollen wir also, daß Kinder dieser Altersphase etwas lernen und wollen wir zum gegenseitigen Verständnis beitragen, so erreichen wir am meisten, wenn wir uns auf die kindliche Bildebene versetzen und ihnen Geschichten erzählen - wie sie uns in alten und neuen Märchen überliefert sind

In ihrer Bilderwelt erleben Kinder zudem etwas, das hinter die ober- flächliche, vordergründige Wahrnehmung reicht: Sie machen dort erste, religiöse Erfahrungen. Das Wort "Religion" kann zwei Bedeutungen haben

Einerseits religio = relegere = be- obachtend lesen: Es werden beobachtend und sorgfältig Daseinsfragen bedacht: Wo fängt die Welt an? Was ist im Leben wichtig? Wer bin ich? Woher komme ich? Was ist der Sinn meines Lebens? Mit diesen Fragen beschäftigen sich die Menschen schon immer. Mit diesen Fragen beschäftigen sich auch die Märchen

Andererseits religio = religare = sich an etwas binden. Hier geht es um eine viel engere Verknüpfung des Religiösen mit dem Theologischen. Es wird nach der Bindung an Christus, an Gott gefragt. Suchende Menschen finden eine Antwort im Glauben, in ihrer Bindung an Gott. Märchen, besonders von Hans Christian Andersen, Leo Tolstoi, Oscar Wilde, Glanni Rodari und anderen gehen auf die Frage nach dem Sinn des Lebens und den Wert des Menschen ein. Sie können deshalb Lebens- und Glaubenshilfe sein

Ob nun aber "Der Fischer und seine Frau" erzählt wird - sie will sein wie Gott, vergleichbar dem Turmbau des Alten Testaments - oder der "Hans im Glück", der in seinem Vertrauen ins Leben ein Inbegriff der "Kinder Gottes" ist, wichtig ist immer, daß die Kreativität der Kinder herausgefordert wird. Man kann zum Beispiel den Wolf suchen gehen, ihn vertreiben: Man kann ihn - und damit die Angst - erzählerisch umsetzen. Und man kann Bilder zeichnerisch umsetzen, wie es von vielen Kindern in der diesjährigen Mal-Aktion der Diözesan-Medienstelle des Bistums Erfurt geschehen ist

Es gibt eben nur wenige Kinder, die nach dem Märchenvorlesen oder -erzählen nicht gerne darangehen, das eben durchlebte Symbolgeschehen in einem bunten Bild zum Ausdruck zu bringen und auf diese Weise zu verarbeiten. Daß die Aktivität des Malens von Märchen bei Kindern mit der Erregung und Anspannung, die das dramatische Geschehen in ihnen auslöst, zugleich ein Höchstmaß an Aufregungen, Reizen und Ängsten aus Umwelt und Alltag abbaut, verleiht ihnen ihre große Bedeutung

Das Anhören eines Märchens und das Aufnehmen seiner Bilder kann deshalb mit dem Ausstreuen von Samen verglichen werden, von dem nur ein Teil im Gemüt des Kindes Wurzeln schlägt. Die Samenkörner aber, die auf fruchtbaren Boden fallen, bestärken wichtige Gefühle, vermitteln Einsichten und nähren Hoffnung, bewältigen Ängste - und damit bereichern sie das Leben des Kindes

Nähere Informationen zum Umgang mit Märchen geben das Referat Elternbindung, Regierungsstraße 44a, 99084 Erfurt (Tel.: 03 61 / 6 57 23 20) und die Kinder- und Jugendbücherei der Diözesan-Medienstelle, Regierungsstraße 45, 99084 Erfurt (Tel. 03 61 / 6 57 23 66)

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 43 des 47. Jahrgangs (im Jahr 1997).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 26.10.1997

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