Viele kapitulieren vor der Bürokratie
Wohnungslosigkeit nimmt zu
Magdeburg (tdh) - In Sachsen-Anhalt hat die Zahl der Menschen ohne Wohnung oder Obdach dramatisch zugenommen. Das geht aus einer Studie hervor, in der zum ersten Mal der Umfang der Wohnungslosigkeit in einem ostdeutschen Bundesland systematisch untersucht wurde
Die Zahl der Räumungsklagen habe von 1995 bis 1996 um 50 Prozent zugenommen, die der Zwangsräumungen um 30 Prozent. Im vergangenen Jahr seien rund 7 800 Menschen in 6 400 Haushalten vorübergehend ohne feste Wohnung gewesen, heißt es in einer gemeinsamen Untersuchung des Sozialministeriums und des Diakonischen Werkes in der Kirchenprovinz Sachsen, die am 17. Oktober in Magdeburg vorgestellt wurde
Besonders häufig hätten sich alleinstehende Männer und Minderjährige als wohnungslos gemeldet. Vier von fünf Wohnungslosen lebten in größeren Gemeinden und kreisfreien Städten. Das Ausmaß der Obdachlosigkeit in Sachsen-Anhalt sei allerdings im Vergleich zu den alten Bundesländern niedriger, sagte Sachsen-Anhalts Sozialministerin Gerlinde Kuppe (SPD)
Bei einem Vergleich der großen Städte liege das Ausmaß der Wohnungslosigkeit in Sachsen-Anhalt etwa bei der Hälfte des westdeutschen Durchschnitts; in kleineren Gemeinden sei der Abstand zum Westen sogar noch erheblich größer. "Wenn wir aber nicht gegensteuern, drohen uns westdeutsche Zustände", sagte Kuppe
Der Direktor des Diakonischen Werkes in der Kirchenprovinz Sachsen, Reinhard Turre, appellierte an Landesregierung, Landkreise und Kommunen, gemeinsam gegen die wachsende Wohnungslosigkeit vorzugehen. Dazu müsse unter anderem mehr bezahlbarer Wohnraum geschaffen werden
Besonders negativ falle das mangelhafte Angebot an kleineren Wohnungen ins Gewicht, da drei Viertel aller Wohnungslosen alleinstehend sind. Die zentrale Ursache für Wohnungslosigkeit ist der Studie zufolge in der Regel Arbeitslosigkeit, nicht selten verbunden mit persönlichen Krisen. Die Probleme seien durch dramatisch gestiegene Wohnungskosten in den neuen Ländern verstärkt worden
Unabwendbar in die Krise schlitterten die Betroffenen meist, wenn sie sich nicht rechtzeitig um Hilfe, etwa um staatliche Unterstützung, bemühten. Die Bedrohung von einer Zwangsräumung werde häufig erst realistisch eingeschätzt, wenn sie nicht mehr abzuwenden sei
Die Wohnungslosen hätten in jeder Beziehung zu wenig Eigeninitiative gezeigt, öffentliche Stellen und Vertreter der Wohnungswirtschaft sprächen gar von einer durch "DDR-Versorgungsmentalität" geprägten Passivität, heißt es in der Studie. Die Verfasser der Studie betonten allerdings auch, daß es auch in Westdeutschland "in solchen Lebenslagen typisch" sei, daß Menschen den Kopf in den Sand stecken. "Wenn die Menschen nicht genug Kraft zur Selbsthilfe haben, müssen ihnen Wege aufgezeigt werden, die sie verstehen können", sagte Ministerin Kuppe
Auf kommunaler Ebene hätten Hilfesuchende oft mit einer zu großen Anzahl von Behörden zu tun. Sie kapitulierten schließlich vor der Bürokratie. "Deshalb muß es einen Anlaufpunkt geben", sagte Kuppe. Die Verfasser der Studie betonen ausdrücklich: "Auch für die Behörden sei es wesentlich kostengünstiger, Betroffenen bereits vor dem Verlust ihrer Wohnung zu helfen, anstatt erst einzugreifen, wenn die Notlage unabwendbar sei
Die Diakonie will Reinhard Turre zufolge ihre offene Sozialarbeit für Obdachlose, Verarmte, Aussiedler und Flüchtlinge weiter ausbauen. Derzeit unterhielten die Wohlfahrtsverbände 56 Einrichtungen für Obachlose in Sachsen-Anhalt, 17 von ihnen befinden sich in Trägerschaft des Diakonischen Werkes. Auch der Magdeburger Diözesan-Caritasverband hält unterschiedliche Beratungsangebote für Menschen an, die von Obdachlosigkeit bedroht sind
In 15 Orten bietet die Caritas allgemeine soziale Beratung an. Darüber hinaus gibt es spezielle Beratung und Hilfe für Schuldner, Straffällige, Haftentlassene, obdachlose Jugendliche, Suchtkranke, von Wohnungslosigkeit Bedrohte, Aussiedler und Flüchtlinge. Auch die Bahnhofsmissionen in Halle und Magdeburg werden von Wohnungs- und Obdachlosen als Anlaufstellen genutzt. Für die Studie hatte die Gesellschaft für innovative Sozialforschung und Sozialplanung Fragebögen an insgesamt 236 Verwaltungsgemeinschaften, kreisfreie Städte und Landkreise in Sachsen-Anhalt verschickt. Darüber hinaus wurden Betroffene befragt, um die Art der verschiedenen "Wohnungslosenkarrieren" zu erfassen
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 26.10.1997