Das Ende der Erwerbsarbeit?
Soziales Seminar in Leipzig
Leipzig (ste) - Alois Streich zweifelt - wenigstens teilweise - am Sinn seiner und seiner Mitarbeiter Arbeit. Sie müssen so tun, als ob alle, die da auf den Gängen der Arbeitsämter sitzen, tatsächlich in den ersten Arbeitsmarkt vermittelt werden können, obwohl alle Erfahrung dagegen spreche und der Markt sie offensichtlich nicht brauche
Sinnbild des Dilemmas ist für den Präsidenten des Landesarbeitsamtes Sachsen die 54jährige Frau aus dem ländlichen Raum, die bereits zwei Qualifizierungen hinter sich, aber kein Auto hat, um damit im Glücksfall in der Stadt eine Stelle annehmen zu können. "Wie soll ich dieser Frau sinnvolle Arbeit geben?
Das Dilemma ergibt sich aus der heutigen Regelung sozialer Absicherung, weitverbreiteter persönlicher Sinnstiftung und einer Verengung des Begriffs Arbeit auf die Erwerbsarbeit. Mit seinem Vortrag "Vom Sinn der Arbeit" eröffnete Alois Streich das "Soziale Seminar" 1997/98, das gemeinsam von Evangelischer und Katholischer Erwachsenenbildung mit der Ökumenischen Stadtakademie veranstaltet wird. Dabei hat er Anstöße gegeben, die auch an den folgenden neun Abenden eine Rolle spielen werden
Das mittelhochdeutsche Wort "Arbeit" bedeutet wie das lateinische "labora" "Mühsal, Last". Heute fühlten sich gerade in den neuen Bundesländern viele Menschen durch die Arbeitslosigkeit ihres Lebenssinnes beraubt. Der Blick in die Geschichte zeigt, so der 58jährige Jurist, daß der Begriff der Arbeit erst in der Industriegesellschaft auf die Erwerbstätigkeit verengt wird. Eine Verengung, die Probleme schafft: Die sozialen Sicherungssysteme seien in Deutschland im historischen und weltweiten Vergleich gut ausgebaut , aber weitgehend an die Erwerbsarbeit gekoppelt. Mit Arbeit, die keine Erwerbstätigkeit ist, läßt sich deshalb nur selten soziale Anerkennung erzielen. Hohe Arbeitslosigkeit bringt außerdem das Finanzierungssystem schnell in Schwierigkeiten
Die technologische Entwicklung wird diese Probleme weiter verschärfen. "Prognosen gehen davon aus, daß in nicht allzu ferner Zukunft nur 20 Prozent des Arbeitskräftepotentials genügen werden, um die Güter zu produzieren und zu vermarkten, die die Gesellschaft braucht," zitiert Streich Wissenschaftler. Dabei wird das Bruttosozialprodukt ausreichen, eine Versorgung aller zu finanzieren. Die Herausforderung an die Politik wird sein, diese Finanzierung zu bewerkstelligen
Die Gesellschaft insgesamt wird sich der Frage stellen müssen: "Wie gehen die Menschen einerseits mit der vielen Zeit um und wie läßt sich die persönliche Entfaltung ohne Erwerbsarbeit bewerkstelligen?" Eine Lösung des Problems sieht Streich - in Anlehnung an Theorien des amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlers Jeremy Rifkin - in der Schaffung eines weiteren Bereichs von gesellschaftlich sinnvoller Arbeit neben dem ersten und zweiten Arbeitsmarkt und den heute bereits bestehenden Tätigkeitsfeldern für das Ehrenamt. Die Sicherung der Existenz solle durch eine staatliche Grundsicherung geschehen, nicht erst in der Rente, wie einige Politiker heute fordern, sondern bereits im erwerbsfähigen Alter. Streich: "Norbert Blüm schlägt verlorene Schlachten. Die umlagenfinanzierte Sicherung läßt sich auf die Dauer nicht durchhalten.
Auf dem Weg ins Freizeitparadies seien einige wichtige Aufgaben zu lösen. "Das Zauberwort heißt ,Motivation'", meint Streich. Motivation, die alle, die nicht das große Geld verdienen wollen, dazu bringt, sich in die Gesellschaft einzubringen und nach Entfaltung ihrer Fähigkeiten zu streben. Eine annehmbare Sozialstellung und die Entfaltung der Persönlichkeit müssen auch außerhalb der Erwerbsarbeit möglich sein. Dem Aussteiger, der seine Karriere unterbricht, um sich zum Beispiel seiner Familie zu widmen, dürfe nichts Anrüchiges mehr anhaften. Streich: "Der Umdenkprozeß ist schwieriger zu vollziehen als die Finanzierung."
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 02.11.1997