Eine Erfahrung, die einen nie mehr loslässt
Christina Richter aus Senftenberg war Missionarin auf Zeit
Senftenberg - Vorgehabt, nach dem Abitur ins Ausland zu gehen, hatte Christina Richter schon länger. Ermutigt, diesen Wunsch zu verwirklichen, hat die Senftenbergerin dann im März 1998 ein Jugendwochenende im Don-Bosco-Haus Neuhausen. Dort habe sie ein ehemaliger Missionar auf Zeit, der von seinen Erfahrungen berichtete, regelrecht "angesteckt", erinnert sich die 22-Jährige. Von September 1998 bis August 1999 war sie dann selbst Missionarin auf Zeit in Argentinien - also nur gut ein halbes Jahr, nachdem sie in Neuhausen "irgendwie die Eingebung gehabt" habe, dass dieser Schritt "genau das ist, was ich machen will."
Nach dem Kurs geht alles sehr schnell: Schon zwei Wochen später fährt Christina zu einer Informationsveranstaltung nach Steyl, im April fängt sie an, Spanisch zu lernen. Im August nimmt sie noch an einem vierzehntägigen Vorbereitungsseminar teil. Am 6. September sitzt sie schon zusammen mit zwei anderen Deutschen im Flugzeug nach Buenos Aires.
Eigentlich wünschten sich die Steyler Missionare eine längere Vorbereitungszeit, erläutert Christina. Die meisten Jugendlichen fingen rund ein Jahr vor ihrer Abreise mit dem Planen an und nähmen an mindestens drei Vorbereitungswochenenden teil.
In Argentinien angekommen, lebt Christina zunächst drei Wochen im Kloster der Steyler Schwestern in Posados, Provinz Missiones. Dann gelangt sie an ihre eigentliche Einsatzstelle, eine Pfarrei in der rund 300 Kilometer entfernten Großstadt Resistencia, und ist, wie sie sagt, erst einmal geschockt, so groß ist der Gegensatz zum Alltag im Konvent: Auf diese schmutzigen Stadtrandsiedlungen, in denen Menschen in unheimlicher Armut leben, sei sie einfach nicht gefasst gewesen, obwohl sie vorher viel darüber gelesen hatte, erklärt Christina heute. Vielleicht habe sie die Situation auch deshalb so überrascht, weil sie in Deutschland als Schülerin nie wirklich soziale Not kennen gelernt hatte. Zudem erlebt sie in Argentinien viel seelisches Leid, beispielsweise in zerstörten Familien.
Oft geht sie zusammen mit den drei Ordensschwestern, die seit einigen Monaten in der Gemeinde leben, die gut zwei Kilometer bis zum Stadtrand, um Menschen zu besuchen und mit ihnen zu sprechen. Abends begleitet sie die Schwestern zum Gottesdienst oder trinkt zusammen mit anderen Jugendlichen Matetee. Nach rund einem Monat hilft Christina regelmäßig in einer Suppenküche der Caritas mit, bereitet das Tischgebet vor, spielt mit Kindern, die zum Essen kommen und kocht auch selbst. Eine feste Aufgabe hat sie als Missionarin auf Zeit nicht. Sie soll sich selber etwas suchen, wo sie mit Hand anlegen kann, und ansonsten einfach als Gemeindemitglied mitleben - wie alle anderen auch.
Rund 40 000 Menschen gehören zum Einzugsgebiet dieser Großstadtpfarrei. Das Gemeindeleben, so Christinas Eindruck, funktioniert gut. Der Glaube hat viel mit dem Leben zu tun. Frauen und Ehepaare aus der Pfarrei leiten Liturgiekreise und Katechesegruppen, formulieren eigene Texte für die Gottesdienste. Zur Erstkommunion- oder Firmvorbereitung treffen sich nicht nur die Kinder und Jugendlichen. Auch ihre Eltern kommen regelmäßig zusammen, um sich über den Glauben zu unterhalten.
Bei Menschen, die nicht in der Kirchengemeinde aktiv sind, merkt Christina aber ebenfalls, dass der Glaube im Alltag gegenwärtig ist, kann sie etwas spüren von diesem ursprünglichen Gottvertrauen, das im "Dios dirá" ("Gott wird es sagen") zum geflügelten Wort geworden ist. Wenn sie heute an ihren Aufenthalt in Südamerika zurückdenkt, wünscht sie sich manchmal, dass der Glaube auch bei den Deutschen "im Herzen lebt - nicht nur im Geist oder in einer Organisation".
In Argentinien, sagt Christina, habe sie erfahren, dass es "okay" sei, einfach mal nichts zu tun. Außerdem habe sie gelernt, dass niemand nach seiner Leistung bewertet werde: "Das tat mir sehr gut." Ein weiteres Reiseandenken, das sie mit nach Hause gebracht hat, ist ihr Bemühen um eine einfache Lebensweise. Bei den Armen in Südamerika bedeutet das, die Wäsche mit der Hand zu waschen und nur mit wenigen Zutaten zu kochen. Wieder zurück in Deutschland, versucht Christina zum Beispiel beim Studium zunächst ohne eigenen Computer auszukommen.
Aufgefallen ist ihr als Missionarin auf Zeit zudem, dass sich die Argentinier im Schnitt seltener ärgern als die Deutschen. Den Menschen dort mache es weniger aus, wenn etwas nicht klappt, berichtet Christina. Zum Beispiel blieben sie auch dann gelassen, wenn ein Bus eine Reifenpanne hat und der nächste erst drei Stunden später fährt.
Christina versucht, sich ein bisschen etwas von dieser Ruhe zu bewahren - auch jetzt als Studentin in Magdeburg. "Aber es ist schwer", erläutert sie, denn sie müsse sich jetzt um mehr kümmern als in Argentinien, habe häufiger Termine und das Leben scheine sich einfach schneller zu drehen.
Einmal allerdings habe sie die stoische Ruhe der Argentinier damals überhaupt nicht verstanden, erzählt Christina. Wie in den Wintermonaten bei bestimmten Grassorten üblich, hatten Jugendliche an einem windigen Tag eine Wiese nahe eines Dorfes in Brand gesetzt. Christina befürchtete, die Flammen könnten auf die umliegenden Gebäude übergreifen und machte sich zusammen mit zwei jungen Argentiniern daran, das Feuer zu löschen. Die Dorfbewohner aber blieben völlig teilnahmslos oder amüsierten sich nur.
Diese Begebenheit ereignete sich im August 1999. Christina lebt inzwischen bei zwei Ordensfrauen in einem kleinen Dorf mit 29 Häusern. Die rund 140 Bewohner sind von den Straßen der Stadt dorthin gezogen. Caritas und Kolping halfen ihnen beim Errichten fester Häuser. Doch viele haben auf dem Land keine Arbeit und müssen deshalb jeden Tag in die Stadt fahren. Einige leben einfach in den Tag hinein, geben das wenige Geld, das sie haben, für Alkohol und Zigaretten aus.
Christina ist dort, wie sie es ausdrückt, "Mädchen für alles". Sie baut mit einer der Schwestern eine Jugendgruppe wieder auf, gibt Kindern Gitarrenunterricht, verarztet ihre Schnittwunden und Insektenstiche und gestaltet die Gemeindegottesdienste mit. Sie hat in diesen Monaten einfach das Gefühl, am richtigen Ort zu sein. Sie merkt, dass es wichtig ist, für diese jungen Menschen da zu sein, ihnen zuzuhören, ihnen Mut zu machen und sie zu ermuntern, von ihrer Zukunft zu träumen.
Zurück in Deutschland braucht Christina erst einmal eine Weile, um sich wieder zurechtzufinden. Sie fühlt sich eingeengt von all den Menschen und Dingen um sie herum. In Südamerika, sagt sie, habe sie sehr intensiv gelebt, sei sie "sehr nahe dran" gewesen an diesem "Geheimnis Leben" und habe sich einfach lebendig gefühlt. Sie habe es als Geschenk empfunden, ganz ohne Druck da sein zu können.
Die meisten Missionare auf Zeit ließen ihre Erfahrungen nie mehr los, ist Christina sicher. Von manchen weiß sie, dass sie später als Friedensfachkraft noch einmal ins Ausland gegangen sind, interkulturelle Arbeit in Deutschland fördern oder Spenden für ihr ehemaliges Einsatzgebiet sammeln.
Kontakt wahren will auch Christina - zu Argentiniern, zu anderen Missionaren auf Zeit und zu Menschen, die sich für eine solche Tätigkeit interessieren. "Ich wünsche mir, dass viel mehr Weltkirche stattfindet, dass wir Deutsche uns bewusst werden, dass wir nicht allein da sind", unterstreicht die 22-Jährige. Sie findet es deshalb gut, wenn junge Menschen eine Zeit lang von daheim weggehen und dann, wenn sie wieder zurückkommen, "in der Welt zu Hause sind".
Karin Hammermaier
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Donnerstag, 05.04.2001