Die gemeinsame Quelle
von Pater Damian
Wer sich um Frieden und Verständigung müht, muss mit dem anderen ins Gespräch kommen und dabei vor allem die Gemeinsamkeiten entdecken Das gilt besonders nach den Terroranschlägen, wenn bei vielen Menschen eine ganze Religionsgemeinschaft, der Islam, in Misskredit gerät oder sogar verurteilt wird.
Vor mehr als 30 Jahren hat das Zweite Vatikanische Konzil erklärt: "Mit Hochachtung betrachtet die Kirche auch die Muslim, die den alleinigen Gott anbeten, den lebendigen und in sich seienden, barmherzigen und allmächtigen, den Schöpfer Himmels und der Erde, der zu den Menschen gesprochen hat. Sie mühen sich, auch seinen verborgenen Ratschlüssen sich mit ganzer Seele zu unterwerfen, so wie Abraham sich Gott unterworfen hat ..." (Nostra Aetate 3).
Dogmatische Unterscheidungen und die anwachsende Zahl von äußerlichen gesetzlichen Vorschriften im Islam machen den Dialog sehr schwierig. Aber es gibt eine andere Ebene im Islam und auch im Christentum, die eine fruchtbarere Kommunikation verspricht: die Mystik.
Schon sehr früh entwickelte sich die Mystik, die dem Islam in vielen Gebieten eine besondere Prägung verlieh. Diese Mystik wird als Sufismus bezeichnet. In der Mystik geht es um tiefe geistliche Erfahrungen in der Begegnung mit Gott. Dass sich hier viele Gemeinsamkeiten mit den christlichen Mystikern ergeben, liegt auf der Hand. Es ist ja derselbe Gott, mit dem der Mensch Erfahrungen im Glauben macht.
Aus der Fülle der Betrachtungen und Gebete sollen zwei Texte islamischer Mystiker über die Liebe zu Gott zitiert werden. Einer der bekanntesten islamischen Mystiker ist Abu Mansur al-Halladsch (gest. 922). Von ihm wird dieses schöne Gebet überliefert: "In meinem Herzen kreisen alle Gedanken um Dich, / Anderes nicht spricht die Zunge als meine Liebe zu Dir. / Wenn ich nach Osten mich wende, strahlst Du im Osten mir auf; / Wenn ich nach Westen mich wende, stehst vor den Augen Du mir. / Wenn ich nach oben mich wende, bist Du noch höher als dies; / wenn ich nach unten mich wende, bist Du das Überall hier. / Du bist, der allem den Ort gibt, aber Du bist nicht sein Ort; / Du bist in allem das Ganze, doch nicht vergänglich wie wir. / Du bist mein Herz, mein Gewissen, bist mein Gedanke, mein Geist, / Du bist der Rhythmus des Atmens; Du bist der Herzknoten mir."
Die klassische Vertreterin der Liebesmystik ist Rabia von Basra (gest. 801). Eine der zahlreichen Legenden, die sich um diese große Heilige des Islam rankt: Man sah sie in den Straßen von Basra, eine Fackel in einer, einen Eimer in der anderen Hand tragend; und auf die Frage nach dem Sinn ihres Tuns antwortete sie: "Ich will Feuer ins Paradies werfen und Wasser in die Hölle gießen, damit diese beiden Schleier verschwinden und niemand mehr Gott anbetet aus Sehnsucht nach dem Paradies oder aus Höllenfurcht, sondern einzig und allein aus Liebe zu ihm."
Pater Damian Meyer
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Donnerstag, 11.10.2001