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Bistum Dresden-Meißen

Durch eine Glastür zum Toten gehen

Der Abschiedsraum im Geraer Klinikum - Station zwischen Krankenhaus und Friedhof

Das Klinikum in Gera hat ein

gut organisierte Krankenhaus

seelsorge: Bruder Paulus Terwitte (Kapuziner und Priester) und Ingrid Kordon sind für die katholische Kirche tätig, die Pastorinnen Adelheid Cellarius-Mikosch und Hanna Kiethe arbeiten für die Evangelisch-Lutheri-sche Kirche. Das Quartett bildet ein harmonisches Team, und sie arbeiten fernab von konfessionellen Schranken

Als Bruder Paulus seine Arbeit vor fünf Jahren aufnahm, stellte er fest, daß es im Klinikum nur "eine unangemessene Möglichkeit für die Leichenauf-bewahrung" gab, nicht zugänglich für Angehörige. Die Verstorbenen wurden ohne Sang und Klang zum Friedhof gebracht, und erst dort bekamen die Angehörigen die Möglichkeit, Abschied zu nehmen - sofern überhaupt eine Trauerfeier stattfand. Für Bruder Paulus und die damals tätige Pastorin Ute Nies war das ein unwürdiger Zustand - nicht nur im Hinblick auf die Verstorbenen, sondern ebenso auch mit Rücksicht auf die Hinterbliebenen; übrigens auch für die Kollegen der Klinikseelsorge

So begannen sie, eine "Rekultivierung" des Umgangs mit den Toten zu betreiben. Bruder Paulus: "Das Bestattungswesen sollte wieder als Kulturereignis im gesamten Stadtgebiet gewertet werden und in den Finanzplänen entsprechend eingeordnet sein." In die Entwicklung einer neuen Konzeption wurde ziemlich früh der namhafte Leipziger Grafiker Matthias Klemm einbezogen. Das Klinikum zeigte sich aufgeschlossen, natürlich auch die Kirchen

Eine Spendenaktion wurde ins Leben gerufen. Zu gestalten waren ein Raum im Klinikum I sowie ein kleines Haus am oberen, nördlichen Rand des Geländes. Anfang 1996 nahmen die Planungen Gestalt an

Wie sollte die Bezeichnung des Raumes sein? Noch ist eine feste Namensgebung nicht erfolgt. Man kann sagen: "Raum für eine erste Verabschiedung"; aus psychologischer Sicht wäre auch richtig: "Raum für Wahrnehmung des Todes"; einen seelsorgerlichen Akzent hat auch die Formulierung: "Zwischenstation zwischen Krankenhaus und Friedhof". Eine solche Zwischenstation bewährt sich besonders dann, wenn es sich um einen Todesfall handelt, der plötzlich und unerwartet eingetreten ist

Das kleine Haus steht am oberen Rand des Krankenhausgeländes. Wenn man von den Kliniken aus hingelangen will, kommt man eigentlich eher zufällig an ein Schild. Darauf steht: "Infektionsgefahr - Zutritt für Patienten strengstens untersagt!" Das Schild stammt aus einer Zeit, in der Leichen laut staatlicher Gesetzgebung Eigentum des Staates waren. Das Schild sollte wohl auch deswegen abschreckend wirken und eine Tabu-Zone aufrichten. Bruder Paulus, der sich gern burschikos ausdrückt, sagt: "Ein Telefonhörer stellt eine größere Infektionsgefahr dar als eine Leiche.

Das Tabu hat also keine Berech

tigung mehr. Weiter bergan ent

deckt der Besucher dann auch das hinter Bäumen gut versteckte Haus. Eine hell gestaltete Gibelwand, die beherrscht wird von einem großen farbigen Kreis. Der ist viergeteilt. Außen zeigt er die warmen Farben der Sonne. Nach innen hin stoßen nachtdunkles Braun und taghelles Weiß hart aufeinander. Das sind wohl Symbole für Leben und Tod; für den Kampf des Lichtes mit der Finsternis

Gunder Geißler ist Mitarbeiter des Klinikums und sozusagen der Herr dieses Häuschens. Er erzählt, wie dieses Haus 1962 im Zusammenhang mit der einstigen Wismut-Klinik gebaut worden war. Und er erzählt, daß er die Notwendigkeit einer neuen Konzeption nicht gleich eingesehen hat, daß er aber nun auch als Nichtchrist gut damit zurechtkommt. Damit werde auch ein guter Dienst am medizinischen Personal getan, das die Verstorbenen bis zu ihrer letzten Stunde gepflegt und versorgt hat

Beim Betreten überrascht das Innere des Hauses. Die Atmosphäre ist warm und freundlich. Ein wohnlich eingerichteter Raum ist durch eine große Glasscheibe geteilt - jedoch nicht getrennt. In der Glasscheibe befindet sich eine Tür, die meist offen steht. Die Angehörigen dürfen hier weinen, so lange und so laut sie wollen, können und müssen. Sie dürfen auch durch die Glastür gehen und den aufgebahrten Leichnam berühren

Sie werden dabei nicht gestört, können aber den Beistand der geschulten Klinikseelsorger in Anspruch nehmen. Herr Geißler weiß, daß hinterher manche Angehörige sehr erleichtert, ja sogar glücklich darüber sind, daß sie diese Möglichkeit gehabt haben; andere allerdings sind auch völlig verstört und aufgewühlt. In jedem Fall aber erhalten sie die Möglichkeit, mit der "Trauerarbeit" zu einem sehr frühen Zeitpunkt zu beginnen. Sie werden vielleicht vor der Gefahr bewahrt, in ihrem ersten Schmerz zu versteinern

Die sich zuerst als Angehörige und Hinterbliebene fühlen, können nun wahrhaft Trauernde werden. Und Trauer, so sagt Bruder Paulus, ist ein Ausdruck des Lebens. Und wieder sagt er einen von seinen burschikosen Sprüchen, hinter denen aber ein hohes Maß an fein empfindender Psychologie steckt. "Wenn ein Mensch weint, dann kann ihn das so sehr erschüttern, daß der ganze Körper davon betroffen ist. Es ist derselbe Vorgang wie bei einem Menschen, dem durch herzhaftes Lachen das Zwerchfell erschüttert wird. Beides zeigt an, daß der ganze Mensch beteiligt ist. Freude und Trauer - beide erschüttern den Menschen. Und das soll auch so sein. Diese Erschütterung ist eine wichtige Hilfe dafür, daß ein Mensch die Situation, in der er sich befindet, zu seinem Segen verarbeiten kann.

Der Raum ist so gestaltet, daß

hinter dem aufgebahrten Leich

nam eine Sonne aufgemalt ist, dunkel wie bei einer Sonnenfinsternis; darum herum aber ist ein schmaler Lichtschein zu sehen. Auf der gegenüberliegenden Seite ist ein Spruch in schöner Schrift angebracht: "Ein großer Schmerz kann oft der innerste Kern, der beste Gehalt und Wert unseres Lebens werden. Th. Fontane"

Der Raum wird den Trauernden von der Klinikleitung auf Wunsch zur Verfügung gestellt. Man muß diesen Wunsch nur äußern; dazu soll hier ausdrücklich ermutigt werden

Hans-Peter Steinhäuser

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 47 des 47. Jahrgangs (im Jahr 1997).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 23.11.1997

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