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Aus der Region

Das Unrecht schreit von kahlen Wänden

Einblick in den Stasi-Knast Bautzen II

"Republikflucht ist Verrat an den friedlichen Interessen des Volkes und nützt Westdeutschland", sagt Walter Ulbricht am 20. Oktober 1957. Am 11. Dezember 1957 - also vor 40 Jahren - führt die Volkskammer der DDR durch eine Änderung des Strafgesetzbuches Gefängnisstrafen bis fünf Jahre für "Republikflucht" ein. So mancher, der beim Versuch der Republikflucht geschnappt wurde, landete im Stasi-Gefängnis Bautzen II

In den 33 Jahren, in denen Bautzen II als Stasi-Gefängnis diente, waren mehrere tausend Frauen und Männer inhaftiert. Die Reise hierher traten sie aus der ganzen DDR per Eisenbahn, LKW oder mit dem DDR-typischen Kleintransporter Barkas an. Oft waren sie tagelang unterwegs, fuhren kreuz und quer durch das ganze Land - in dunkelgrünen Bahnwaggons mit der Aufschrift "Deutsche Post" an Personenzüge gekoppelt. Der "Grotewohl-Expreß", wie ihn die Häftlinge nannten, hatte 18 Zellen und in jeder konnten bis zu sechs Häftlinge transportiert werden. In einem LKW waren acht, in einem Barkas sechs Zellen; Belüftung, Beleuchtung, geschweige denn ein WC gab es nicht. Hinter wem sich das erste der beiden Gefängnistore von Bautzen II schloß, wußte nicht, wann es sich für ihn wieder öffnen würde. Ein Häftling hat hier 17 Jahre seines Lebens zugebracht

Damit die in der Umgebung wohnenden Bautzner nicht erfuhren, was hier vor sich ging, wurden die Fahrzeuge mit den in den 60er / 70er Jahren üblichen DDR-Werbesprüchen versehen: "Ostseefisch auf jeden Tisch" oder "Nimm ein Ei mehr". Und schon dachte jeder, es handele sich um Versorgungsfahrzeuge für das Kreisgericht

Der Eingang wirkt unscheinbar, unübersehbar aber der Spruch, an dem jeder Gefangene vorbeiging: "Das Leben dem Menschen. Die Zukunft dem Kommunismus." Neben tausenden Unbekannten war Bautzen II auch immer ein Gefängnis für die "Prominenz": Georg Dertinger, erster DDR-Außenminister, wurde hier sogar getauft, Erich Loest, Walter Janka, Rudolf Bahro waren hier. Daneben wegen krimineller oder politischer Delikte verurteilte Partei-Funktionäre oder Offiziere, Republikflüchtlinge, Fluchthelfer, als Spion verurteilte Ausländer, Menschen, die von der Stasi in die DDR verschleppt worden waren, und Nazikriegsverbrecher. Menschen vieler Nationalitäten und Religionen, Menschen aus etwa 40 Ländern

Nicht weit vom Häftlingsein- gang entfernt, sind die beiden Vernehmungsräume - natürlich schalldicht isoliert. Schreie dringen nicht einmal bis auf den Gang. Auffallend für den heutigen Besucher: Das gesamte bewegliche Inventar des Gefängnisses ist verschwunden. Warum? Um Spuren zu verwischen. Aber das Unrecht schreit auch von kahlen Wänden. Der Arbeit des Bautzen-Komitees, dem etwa 500 Mitglieder - ehemals in den beiden Bautzner Gefängnissen Inhaftierte - angehören, ist es zu verdanken, daß der Besucher sich wieder ein etwaiges Bild von den "Aufbewahrungsmethoden" der Stasi machen kann

Im Haupttrakt führt eine riesige Eisentreppe über fünf Etagen nach oben. Mittags scheint die Sonne einem direkt entgegen, wenn man hinaufschaut. "Himmelsleiter" nannten die Häftlinge die Treppe, die sie manchmal von den Wärtern hinuntergestoßen wurden, "damit es ein bißchen schneller geht"

In den Etagen reiht sich Zellentür an Zellentür. Viele Einzelzellen wurden mit zwei oder drei Gefangenen belegt. Die Fenster aus Milch- oder Riffelglas konnten nicht geöffnet werden. Bis Mitte der 70er Jahre bekam der Häftling täglich fünf Liter Wasser für Hygiene, Geschirrreinigung und Spülung des Toilettenkübels, der nur wöchentlich geleert wurde und keineswegs luftdicht war. Erst später gab es Waschbecken und WCs. Der Lautsprecher über der Tür verkündete hausinterne Mitteilungen, wurde aber gleichzeitig durch ein eingebautes Mikrophon zum Abhören benutzt

Bis Anfang der 60er Jahre war Arbeiten im Gefängnis eine Auszeichnung. Dann wurden die Häftlinge in die Produktion einzelner Betriebe eingebunden. Die Arbeitsräume waren im Keller. Teilweise arbeiteten die Gefangenen auch in den Zellen und auf den Gängen. Im Zwei-Schicht-System fertigten sie Elektroteile, Kugelschreiber, Faserstifte, Textilwaren. Der Durchschnittslohn betrug 600 bis 800 Mark. Davon bekamen die Häftlingen ein Zehntel - in Form von Wertgutscheinen. Der Rest war für Kost und Logis. Neben Magarine, Marmelade, Wurst oder Schuhcreme konnten die Häftlinge das "Neue Deutschland" kaufen, für manchen der einzige Kontakt zur Außenwelt

Bis August 1965 durften die Häftlinge ihren Namen weder gegenüber dem Wachpersonal noch gegenüber den Mithäflingen gebrauchen, jeder war nur eine Nummer. Hinter jeder Zellentür und jeder Nummer ein Schicksal: Menschen wurden hier körperlich und seelisch kaputtgemacht, nur weil sie einen "falschen Satz" gesagt hatten

Im Gefängnis gab es ein zweites Gefängnis - für besonders "schwere Fälle" - den Isolationstrakt. Hier, in Zelle Nr. 135, saß bis Weihnachten 1989 Bodo Strehlow. Der ehemalige Volksmarinesoldat hatte versucht mit einem Volksmarineboot in den Westen zu fliehen. Der Versuch mißlang, Strehlow wurde wegen versuchter Republikflucht zum Tode verurteilt. Wegen seines jungen Alters wandelte man die Strafe in lebenslangen Freiheitsentzug um

Und dann der "Tigerkäfig" - Menschen, gehalten wie Tiere oder schlimmer. "Tigerkäfige" hießen in der Sprache der Inhaftierten die Arrestzellen. Innerhalb dieser Zellen gab es nochmals große schwere verschließbare Eisengitter. Toilette und Waschbecken waren durch ein Gitter abgetrennt. Wer sie benutzen wollte, war auf die Gunst der Wärter angewiesen. Anderfalls mußte die Notdurft in der Zelle verrichtet werden. Wöchentlich wurden diese samt Häftling mittels kaltem Wasser aus einem Druckschlauch gereinigt. Wie der Häftling - bei 12 bis 15 Grad Zellentemperatur - wieder trocken wurde, war sein Problem. Der international vorgeschrieben Notrufknopf war selbst mit extrem langen Armen nicht zu erreichen. Für acht Stunden in der Nacht wurde die Holzpritzsche runtergeklappt, und alle drei Tage gab es eine Wolldecke

Unter Androhung von Arrestverlängerung war es tagsüber verboten, sich zu setzen oder auch nur an die Wand zu lehnen. 16 Stunden Gehen, Stehen, Hocken auf drei Quadratmetern. Mindestens 21 Tage dauerte der verschärfte Einzelarrest -völlig isoliert von Mithäftlingen, Entzug der Schreib- und Leseerlaubnis, keine Päckchen, keine Briefe

Anfang der 80er Jahre wurde das Fernsehen im Isoliertrakt zu bestimmten Zeiten verpflichtend, nämlich zur täglichen DDR-Nachrichtensendung "Aktuelle Kamera" und dem montäglichen "Schwarzen Kanal" mit Karl-Eduard von Schnitzler. Bei sehr guter Führung gab es einmal im Halbjahr eine Belohnung: den "Kessel Buntes". In der Gefängnisbibliothek sorgten Werke von Marx, Engels, Lenin sowie der DDR- und der sowjetischen Gegenwartsliteratur für "Unterhaltung". Die "Bibel" und Goethes "Faust" waren die einzigen literarischen Besonderheiten. Ein Gefangener lernte den "Faust" in seiner Bautzen-Zeit auswendig

So unmenschlich sie behandelt wurden, Gefangene waren für die DDR-Machthaber auch wertvoll. Im Rahmen des Gefangenenfreikaufs durch die Bundesrepublik wurden sie pro Kopf für etwa 50 000 DM gehandelt. Ein Arzt oder Jurist war schon mal das Dreifache wert. Es gab allerdings auch unverkäufliche "Exemplare". Nach Schätzungen wurden etwa 95 Prozent der Entlassenen freigekauft

Eine der wenigen Einrichtungsge- genstände, die heute noch in Bautzen II stehen, ist eine der modernsten Abhöranlagen in der DDR. Auch in der eigenen Sonderhaftanstalt mußte "Horch und Kuck" alles bis ins Kleinste überwachen. In der Abhörzentrale kamen die Leitungen aus allen Zellen zusammen und wurden von hier in die benachbarte Kreisdienststelle der Stasi weitergeleitet. - Übrigens: Die Anlage fand man 1993 auf dem Schutt und rettet sie so vor dem Vergessen

Vieles mehr ließe sich berichten: daß die Gefangenen nur einmal wöchentlich duschen durften, daß man die Kleidung nur alle vier Wochen wechseln durfte, daß sie im ersten Halbjahr gar keinen und dann zweimal jährlich Besuch ersten Grades empfangen durften, daß es Päckchen nur zu Weihnachten und zum Geburtstag gab... Was sich hinter diesen Mauer aber wirklich alles ereignete, wird die Nachwelt wohl nie völlig erfahren. Belastendes Material wurde beseitigt, die Akten sind verschwunden

Im Wendeherbst 1989 saßen in Bautzen noch 112 Gefangene, umgeben von 84 Bediensteten. Schuldig von ihnen will heute keiner sein und mancher von ihnen ist wieder Gefängniswärter -in Bautzen I, dem "Gelben Elend". Die Grenzen des Rechtsstaates sind schnell erreicht: Namen und Vornamen der Bediensteten waren den Häftlingen in der Regel nicht bekannt, und Beweismittel existieren nicht mehr. Mancher ehemalige Häftling kann nicht einmal mehr für den Rentenbescheid nachweisen, daß und wie lange er in Bautzen II inhaftiert war. So schreit das Unrecht weiter zum Himmel. Peter Krahl

Grundlage des Berichtes sind die Angaben während der Führung durch die Gedenkstätte in der Weigangstraße 8a. Sie ist Montag bis Freitag 10 -16 Uhr geöffnet. Führungen (max. 25 Personen) bitte vereinbaren. Anschrift: PF 1928 in 02609 Bautzen; Tel und Fax: 0 35 91 / 4 04 74.

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 49 des 47. Jahrgangs (im Jahr 1997).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 07.12.1997

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