"Schule des Lebens" für mehrere Generationen
50 Jahre Studentengemeinde Thomas Morus in Halle
Halle (dw) - Immer wieder im Laufe ihres 50jährigen Bestehens haben Seelsorger mit Ausstrahlungskraft die katholische Studentengemeinde in Halle geprägt. Der Rückblick auf das halbe Jahrhundert ihres Bestehens war für rund 350 ehemalige und heutige Studenten Ende November Anlaß, sich über Erfahrungen geistlicher Gemeinschaft und über die Wirkung der Studentengemeinde in die Öffentlichkeit auszutauschen. Dankbar, aber auch kritisch erinnerten Vertreter aller Studentengenerationen dabei an Seelsorger wie Hugo Aufderbeck, den späteren Erfurter Bischof, oder Adolf Brockhoff
Bernhard Rabsch, der in Halle von 1946 bis 1951 Biologie und Chemie studierte, rief die Anfänge der Gemeinde in Erinnerung. Studentenseelsorge hatte es in Halle schon in den 20er Jahren gegeben. Der spätere Weihbischof Rintelen zum Beispiel war Hallescher Studentenseelsorger. Aus zwei Studentenkreisen, die sich von 1946 an in der Halleschen Propsteigemeinde und in Halle-Süd trafen, entstand - ohne Gründungsurkunde oder -beschluß - allmählich die katholische Studentengemeinde Halle unter Leitung von Vikar Hugo Aufderbeck. In einem feierlichen Gottesdienst zu Beginn des Wintersemesters 1947/48 stellte Aufderbeck die Gemeinde unter das Patronat des heiligen Thomas Morus
Im folgenden Sommer wurde die Studentengemeinde, die bis dahin zur Propstei gehört hatte, eigenständig. Aufderbeck war fortan hauptamtlicher Studentenpfarrer. Für die Studenten hatte er in einem Gasthaus einen Warte- und Lesesaal angemietet, der auch für kleine Tanzparties zweckentfremdet wurde, die, wie Rabsch schmunzelnd erzählte, sich wegen nächtlicher Ausgangssperren "notgedrungen bis in die Morgenstunden ausdehnten"
Aufderbeck habe die Studenten durch seine Visionen und seine ständig neuen Ideen mitgerissen, erinnerte sich Bernhard Rabsch. Die Menschen, die er ansprach, seien keineswegs alle Studenten und schon gar nicht alle Kirchgänger gewesen. Er wollte, daß Auszubildende, die nach Halle kamen, neben der fachlichen auch geistliche Fortbildung erfahren und bezog sie deshalb in die Studentengemeinde ein. Im Erdgeschoß eines Universitätsgebäudes machte ein Schaukasten auf die Veranstaltungen der Gemeinde aufmerksam. In der Anfangszeit bekam Aufderbeck sogar die Genehmigung, die gesamte Sekretariats-Kartei der Universität nach Studenten zu durchforsten, die sich bei der Immatrikulation als Katholiken bekannt hatten - zur Überraschung des aktiven Kerns der Studentengemeinde waren das sehr viele, die dann gezielt von ihren Kommilitonen zu den Gemeinde-Veranstaltungen eingeladen wurden
Die Studenten trafen sich in unterschiedlichen Kreisen, darunter ein kunstgeschichtlicher, ein naturwissenschaftlicher und ein Caritas-Kreis. Um 1948 kam ein Katechetischer Kreis hinzu. Die Teilnehmer versammelten sich bereits morgens vor Vorlesungsbeginn und bereiteten sich auf die Missio Canonica vor. Zwei Vertreter jeder Fakultät gehörten einer Leitungsgruppe an. Auch die Arbeiter- und Bauernfakultät machte dabei keine Ausnahme. Wichtigster Treffpunkt war der sogenannte Hauptkreis. Dort wurden auf dem Hintergrund des wachsenden politischen Drucks theologische und philosophische Themen beleuchtet
Eva Maria Hille, ehemalige Medizinstudentin, erinnert sich an den 17. Juni 1953: Der Hauptkreis mußte damals ausfallen wegen der Ausgangssperre. Die Patienten im Krankenhaus, in dem sie Praxiserfahrungen sammelte, wollten alle nach Hause, weil sie dachten, die politische Wende sei gekommen. Kurz zuvor war die Studentengemeinde mit dem damaligen Studentenpfarrer Dr. Ludwig Iskenius während eines Wochenendes im kirchlichen Bildungshaus Bad Kösen von der Polizei aus Haus und Stadt vertrieben worden. Es handele sich um eine "illegale Zusammenziehung vorwiegend junger Menschen", warf die Polizei den Studenten vor. Anschließend versammelten die sich vor der St.-Norbert-Kirche in Halle und sangen dort "Die Gedanken sind frei"
Das gemeinsame Gebet und die Liturgie der Osternacht seien im Leben der Gemeinde zentral gewesen, erzählt Professor Peter Stosiek, der von 1955 bis 1961 in Halle studierte: "Ich schäme mich fast, es zu sagen: wir fanden nichts dabei, im Paddelboot miteinander zu beten." Alle anderen Aktivitäten von Tanz bis Volleyball hätten sich um eine ernste, kontemplative Mitte bewegt. Die dominante Rolle, die dabei Studentenpfarrer Adolf Brockhoff (1954 bis 71) spielte, schildert Pfarrer Heinrich Pera: Brockhoff sei "Schutz und Speer", eine Art "Übervater" gewesen, der vielen Studenten Halt und Heimat gegeben habe, darunter auch Teilnehmer des damals in Halle angesiedelten Altsprachenkurses, die später Pfarrer wurden. "Wir waren eine große Familie unter Brockhoff", sagte eine andere Ex-Studentin der 60er Jahre, Leila Grafenhahn-Kell. Die Erfahrung dieser Zeit seien ausschlaggebend, daß sie "immer noch nicht aus der Kirche ausgetreten" sei. Ein Schock für die Gemeinde sei 1963 der Mauerbau gewesen. Sie und die anderen Mitglieder der Studentengemeinden-Spielschar hätten all ihre Wut, Trauer und Hoffnung schließlich in die Aufführung des Theaterstücks "Die Gerechten" hineingelegt, das sie in mehreren Orten der DDR aufführten
Veronika Böhnisch hat in den 70er Jahren eine Zeitlang in der Hausgruppe der Studentengemeinde im Halleschen Mühlweg gewohnt - seit 1957 hatte die Gemeinde dort, in der sogenannten "Mühle", ihr Domizil. "Es war eine Schule des Lebens, Kampf und Kontemplation und nebenbei ein erfolgreiches Eheanbahnungsinstitut, unter anderem für unseren Studentenseelsorger", beschreibt sie. Nach längeren Streitigkeiten innerhalb der Studentengemeinde ließ Bischof Johannes Braun die "Mühle" 1976 schließen
Als Hans Joachim Marchio 1977 Studentenseelsorger wurde, nahm die Gemeinde sie wieder in Betrieb. Beim ersten Fest, das nach der Wiedereröffnung in der Mühle stattfand, sei allerdings gleich die Stasi dabei gewesen, wußte Marchio zu berichten
Andere Aspekte der Geschichte der Thomas-Morus-Gemeinde beleuchteten Vertreter der drei Partner-Studentengemeinden Köln, Mainz und Mannheim. Sie erinnerten an Besuche durch erfundene Verwandtschaftsbeziehungen, in Keksdosen herübergeschmuggelte Bücher, unglückliche und geglückte Ost-West-Liebesbeziehungen und gemeinsame Treffen in Ost-Berlin, von Hallenser Teilnehmern als Besuche bei "Tante Hedwig" bezeichnet. Die Kontakte waren bereits zur Zeit Hugo Aufderbecks durch umgesiedelte Mitglieder der Studentengemeinde Halle entstanden. Otfried Kießler, der in den 60er Jahren den Hallenser Kreis in Köln leitete, äußerte seinen Respekt vor damaligen Entscheidungen seiner Freunde in Halle, dem Trend entgegen nicht in den Westen überzusiedeln. Kritisch merkt er an, daß die Chance, sich "auf politischer Ebene zu unterhalten und eine gemeinsame politisch-gesellschaftliche Perspektive zu suchen", kaum genutzt worden sei. "Wir verstanden die Partnerschaftsarbeit als persönlichen christlichen Auftrag", sagte Norbert Müller, der Ende der 60er Jahre in Mainz studierte. In der "Mühle" habe er sich zu Hause gefühlt: "Wir haben hier katholische Kirche in einer Intensität erlebt, die wir selbst nicht mehr kannten" Die Freundschaft mit Hallensern habe ihm Rückhalt gegeben, wenn er - oftmals als einziger - den Kommunisten seiner Universität widersprach, die die Mauer verteidigten. In die Partnerschaft mit Studentengemeinden in Posen und Krakau, die Studentenseelsorger Brockhoff angestoßen hatte, seien die westdeutschen Partner mit einbezogen worden
Einen kurzen Einblick in heutiges Leben der KSG Halle bekamen die "Veteranen" von Helmut Podkajsky, der seit 1993 in Halle Mathematik studiert: "Es wird internationaler" lautete sein Fazit. Zudem habe die "Mühle" Konkurrenz bekommen. Viele Wochenendveranstaltungen finden seit einiger Zeit im leerstehenden Pfarrhaus Wettin an der Saale statt
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 07.12.1997