Die erste Seelsorgehelferin im Bistum
Maria Christmann wird 90 Jahre alt
"Der liebe Gott hat mir alle Wünsche erfüllt, seit ich 14 bin", sagt Maria Christmann, und das will etwas heißen, denn am 19. Dezember darf sie ihren 90. Geburtstag feiern. Sie wird es im stillen tun, wie sie gelebt hat. "lch stehe gern in der zweiten Reihe", sagt sie von sich. Gearbeitet hat sie ihr Leben lang aber wie jemand ganz vorn
In Münster/Westfalen ist Maria Christmann als Tochter einer katholischen Beamtenfamilie aufgewachsen. Für ihre drei Brüder war sie immer zu zart, zu kränklich. So saß sie meist für sich allein, nähte Puppenkleider und las. Dabei wollte sie gern etwas Außerordentliches für den Glauben tun. Die Biographie der kleinen Theresia öffnete ihr die Augen dafür, daß es darauf ankomme, an dem Platz, an den man gestellt ist, die kleinen Dinge außerordentlich gut zu tun. Das blieb ihr inneres Motto
Lehrerin wollte sie werden, möglichst in einem so kleinen Ort, wo sie dazu noch im Gottesdienst die Orgel spielen und dem Pfarrer assistieren könnte. Ihre Liebe zur Liturgie entfaltete sich bereits im Gymnasialalter, da sie jahrelang Vorbeterin sein durfte. Später aber sah es so aus, als ob ihre schwache Gesundheit ihrem heißen Berufswunsch entgegenstände. Das Studium jedenfalls konnte sie nicht zu Ende führen. Die Versetzung des Vaters nach Leipzig erschien ihr wie ein Schlag. Sie mußte den Eltern folgen, weg aus dem heimatlichen Münster, in die harte Diaspora, ohne abgeschlossene Ausbildung. Mit ehrenamtlicher Arbeit in der Propsteigemeinde fing dann das an, was ihre Berufung wurde. Sie lernte und lehrte, gab Religionsunterricht, wurde Caritasfürsorgerin, bis sie vor Erschöpfung zusammenbrach. Und das, was sie verdiente, reichte nicht zum Leben
Nach eindringlicher Intervention ihres Leipziger Kaplans, Johannes Derksen, ließen die Eltern sie dann mit auf seine erste Pfarrstelle in Reichenbach (Vogtland). Sie war Pfarrhelferin - eigentlich die erste Seelsorgehelferin im Bistum - und zugleich Sekretärin des Schriftstellers Derksen. Heute zeigt sie eine lange Reihe dicker Bücher, 40 Titel aus dem Leipziger St. Benno-Verlag. Sie hat alle die Mannuskripte mit der Maschine geschrieben und redigiert. Der Krieg begann. Nebenbei übernahm sie den Küsterdienst, dann das Orgelspiel, als der Organist eingezogen wurde. Sie konnte etwas Klavier spielen, hatte aber noch nie an einer Orgel gesessen! Pfarrhaushalt, Religionsunterricht, Kinderchor und Ministranten, denen sie noch Lateinunterricht gab, beanspruchten sie. Später noch die Nähmaschine, mit der sie nachts Kleider für die vielen Umsiedlerkinder nähte. Keine Rede von Achtstundentag. Dann wurde auch der Pfarrer eingezogen. Sie war für alles allein. Die Gestapo lud sie vor. Sie wurde im Keller des Reichenbacher Rathauses verhört, weil sie "Wohnraum entzogen" habe (auf ihren Namen hatte die Kirche in Netzschkau ein Haus zur Nutzung als Kapelle erworben). Sie kam zum Glück frei und schuf Wohnraum mit der Pfarrjugend, eine "richtige Wohnung", damit niemand mehr etwas beanstanden konnte
Vor ein paar Tagen rief Maria Christmann mich an: "lch hab vergessen zu erzählen, warum es in Reichenbach so schön war." Von 1939-1944 lebte ein evakuiertes Mädchen aus dem Rheinland im Pfarrhaus, Gertrud war neun, als sie ankam. Maria Christmann wurde ihre "Mama Ria". Sie hat heute noch Kontakt mit dem "Trudelmädchen". Wie ein Licht sei es gewesen, dieses Glück, ein Kind im Haus zu haben
"Ich hatte keine Ideen", sagt Maria Christmann von sich. "Ich mußte nur die vielen Ideen unseres Pfarrers ordnen und an die richtige Stelle setzen", ob es um die Vorbereitung eines Kinderfestes ging oder um ein Weihnachtsspiel für die Gemeinde. Er sei ein Mensch voller Humor und Phantasie gewesen. Bis zu seinem Tode 1973 blieb sie bei Pfarrer Derksen, seit 1949 in Dresden-Johannstadt, später im Ruhestand im Haus an der Ullersdorfer Straße. Daß das heutige Pfarrhaus in Dresden-Johann-stadt der Gemeinde Herz Jesu gehört, verdankt sie übrigens dem klugen Engagement Maria Christmanns
Sie legt noch heute Wert darauf, daß man sie "Fräulein Christmann" nennt. "Korrekt" ist eines ihrer Lieblingsworte. Aber nicht als Selbstzweck, sondern als Lebenshaltung. Weil heute ihr zarter, stets über Gebühr beanspruchter Körper nicht mehr ganz so will, entschuldigt sie sich vor meinem Besuch. Der Arm habe nicht mitgemacht, deshalb sei ihr Mittelscheitel heute nicht recht gerade. Und es bekümmert sie, nicht mehr so wie früher für andere da sein zu können. "Verfügbar sein für das Reich Gottes" nennt sie das. Sie, die immer da war für andere, braucht heute selbst manchmal Hilfe. Sie, die nie an sich selbst gedacht hat, kann heute von ihrer Rente kaum leben. Dennoch sagt sie: "lch hatte ein schönes Leben, weil ich es mit dem lieben Gott führen durfte. Wenn er mich noch ein bißchen hier behalten will, bin ich nicht traurig, wenn auch das Alter manches beschwerlich oder unmöglich macht." Und sie zeigt lächelnd auf ihren Scheitel
Ursula Wicklein
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 21.12.1997