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Aus der Region

Seelsorger der Gemeinde ist die Gemeinde

W. Kraning im Interview

Herr Rat Kraning, Sie haben sich in den vergangenen Jahren als Pfarrer von Genthin mit Ihrer Gemeinde intensiv um neue Arbeitsplätze bemüht und sogar eine Beschäftigungsgesellschaft gegründet. Ist es Aufgabe einer Gemeinde und ihres Pfarrers, Arbeitsplätze zu schaffen?
Ja. Dabei muß aber der Zusammenhang deutlich werden: Weil Christen von der Botschaft Gottes berührt sind, kann ihnen die Lebenssituation der Mitmenschen, also beispielsweise deren Arbeitslosigkeit, nicht gleichgültig sein. Wer sich für Menschen in Not engagiert, trifft sich mit dem Einsatz Jesu für die Menschen.
Jesus wollte mehr als nur die äußere Not der Menschen lindern. Hat Ihr Engagement Menschen zum Glauben geführt?
Daß dadurch Menschen angeregt wurden, sich mit dem Glauben auseinanderzusetzen, weiß ich nur von zwei Personen. Ganz gewiß aber hat sich das Image der katholischen Gemeinde in Genthin verändert: Kaum jemand in der Stadt spöttelt mehr über die Kirche und den Glauben. Ganz im Gegenteil: Von der St.-Marien-Gemeinde wird heute mit Respekt gesprochen. Die Gemeinde hat ihre Ghetto-Situation deutlich überwunden.
Sie sprechen von einer Imageveränderung. Welches Image haben die Gemeinden, hat unsere Kirche?
Das Image unserer Kirche wird sicher von vielen Faktoren bestimmt. Manches davon trägt dazu bei, daß wir es so schwer haben, bei den Mitmenschen anzukommen. So hat die Kirche den Ruf, mit erhobenem Zeigefinger dazustehen, also Vorschriften und Pflichten in den Mittelpunkt zu stellen. Zu ihrem Image gehört auch, daß sie als Institution gilt, in der eine veraltete Sprache, althergebrachte Gebärden und Formen praktiziert werden. Mir fällt dazu die Geschichte vom Clown ein, die Joseph Ratzinger in seinem Buch "Einführung in das Christentum" aufgegriffen hat: Ein Zirkus brennt. Als erstes entdeckt dies ein Clown, der schon für die Vorstellung kostümiert ist. So, wie er ist, läuft er los durch den Ort und ruft "Der Zirkus brennt, der Zirkus brennt." Alle Leute sagen: Mensch, so eine tolle Werbung. Und glauben dem Clown seine Nachricht nicht. Ähnlich kommt die Kirche heute daher. Und die Nachricht, die sie hat, wird nicht ernstgenommen.
Versteht es die Kirche möglicherweise nicht, ihren Auftrag, für jeden Menschen dazusein, öffentlich genügend deutlich zu machen?
Ich weiß nicht. Das Sozialwort der Kirchenleitungen beispielsweise nimmt die soziale und wirtschaftliche Situation der Menschen sehr ernst. Mir tut es leid, daß immer vom Sozialwort gesprochen wird. Ich spreche lieber vom Zukunftswort. Der Titel heißt ja "Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit". Das Zukunftswort macht deutlich, daß es den Kirchen um die Menschen geht: Ohne einen Grundkonsens in der Gesellschaft kommen wir nicht mehr klar. So wichtig die oft beschworene Selbstverwirklichung einmal war, um einen Durchbruch durch erstarrte Formen und Normen zu erzielen, heute müssen wir betonen: Zur Selbstverwirklichung gehört, daß ich meinen Beitrag für die Gesellschaft leiste. Das gilt übertragen auch für die Kirche: Wenn sie sich selbst verwirklichen will, geht das nicht ohne einen Einsatz für die Gesellschaft. Die Kirche muß sich also um vieles kümmern, was in der Öffentlichkeit geschieht: um die Politik, die Wirtschaft...
Das Zukunftswort, wie Sie es nennen, wird zwar hier und da erwähnt, aber Wirkungen gehen von ihm kaum aus. Ist es "totgelobt worden"?
Es liegt an uns, was daraus wird. Ob das Papier Wirkung hat oder nicht, wird auch daran liegen, wie wir das sechste Kapitel, das die Kirche selbst in den Blick nimmt, verwirklichen. Konkret: Werden wir es als Kirche schaffen, bei knapper werdenden Geldern keine Mitarbeiter zu entlassen und Lösungen zu finden, die Vorbildcharakter haben können. Wenn wir es nicht schaffen, wüßte ich nicht, wie wir noch irgendeinem Manager und Unternehmer etwas sagen könnten.
Neben der Arbeitslosigkeit - welche Probleme gibt es noch, zu deren Lösung Christen beitragen sollten?
Das wesentlichste Problem überhaupt ist: Wir sterben in Gruppenegoismen. Unsere Gesellschaft stirbt, weil jede Gruppe auf ihrem Vorteil beharrt. Hier werden engagierte Christen gewichtig dazwischen sein müssen, um in den einzelnen Gruppen deutlich zu machen: Wir müssen von der gesamten Gesellschaft her denken. Beispiel: Wenn wir Arbeitsplätze oder Lehrstellen schaffen wollen, müssen wir zu Gehaltsverzicht oder geringeren Lehrlingsentgelten bereit sein.
Zurück zum Image der Kirche: Was muß sich tun, damit die Frohe Botschaft bei Nichtchristen besser Gehör findet?
Wir müssen unsere Kontakte zu Nichtglaubenden vergrößern: in Kindertagesstätten, in Schulen, über den schulischen Religionsunterricht, durch offene Bildungsangebote in unseren Gemeinden. Eine Gemeinde muß dabei nicht alles anbieten. Wenn wir uns mehr und mehr von einer flächendeckenden Seelsorge verabschieden müssen, muß dies kein Nachteil sein. Wichtig ist, daß sich an verschiedenen Orten einer Region Schwerpunktangebote herausbilden: In der einen Stadt ist es Jugendarbeit, in einer anderen Gemeinde gibt es gute Familiengottesdienste und Kinderarbeit. Das ist kein Problem, mobil wie die Menschen heute sind. Und wir Priester müssen lernen, neidlos zuzulassen, daß Familien dorthin fahren, wo es gute Familiengottesdienste gibt.
Hier ist also Mut zu Veränderungen im Denken und Handeln angesagt?
Wir Priester müssen in gewisser Weise das pfarrliche Denken aufgeben und mehr zu Spiritualen unserer Gemeinden werden, also zu geistlichen Anregern und Begleitern. Zugleich müssen wir entdecken, was der Heilige Geist in den einzelnen Gemeindemitgliedern wirkt. Für eine Gemeinde kann vieles wichtig sein, was nicht vom Pfarrer kommt. Zugleich sollten die Gemeindemitglieder die zurückgehende Zahl Hauptamtlicher in der Seelsorge als Chance begreifen. In der Taufe wurde jedem von uns gesagt: Du bist in den priesterlichen und prophetischen Dienst Jesu mit hineingenommen.
Dem will das kürzlich veröffentlichte Wort zu Aspekten der Mitarbeit von Laien am priesterlichen Dienst doch aber eher Grenzen setzen...
Leider. Frauen und Männer wirken in der Welt und in der Kirche jedoch nicht als Hilfsarbeiter des Pfarrers, sondern in einer eigenständigen Berufung aufgrund von Taufe und Firmung. Dem Volk Gottes als Ganzem ist der priesterliche Dienst verliehen. Das "gemeinsame Priesterum der Gläubigen", von dem in den Konzilstexten die Rede ist, ist kein verdünnter Abguß des Weihepriestertums. Ich hätte mir gewünscht, die Instruktion hätte diese theologische Wahrheit deutlicher betont. Wie gut wäre es gewesen, wenn sie allen engagierten Laien großen Dank und Ermutigung ausgesprochen hätte! Wo Mißstände sind, müssen Roß und Reiter genannt werden. Dabei darf aber eine Entwicklung, die mit Gottes Geist zu tun haben kann, nicht unterdrückt werden. Gibt es nicht auch Mißstände auf der Seite des Weihepriestertums? Gab und gibt es auf dieser Seite keine theologischen und praktischen Fehlentwicklungen? Ich hoffe, die Instruktion gibt Anlaß zu vielen Gesprächen über das Verhältnis von allgemeinem und besonderem Priestertum.
Wie kann es auf diesem Hintergrund weitergehen?
Wir sind dahin unterwegs, daß unsere Gemeinden von versorgten zu mitsorgenden Gemeinden werden. Diesen Weg gilt es fortzusetzen. Die Not, daß die Zahl unserer hauptamtlichen Seelsorger zurückgeht, kann helfen, diesen Weg zu verkürzen. Erster Seelsorger der Gemeinde ist die Gemeinde. Damit hat die ganze Gemeinde Verantwortung zu tragen.
Müßte sich das nicht aber auch in Entscheidungskompetenzen der Laiengremien niederschlagen?
Auf der unteren Ebene wird der Pfarrgemeinderat immer mehr an Konturen gewinnen und ein Gremium der Mitverantwortung werden. Das gleiche gilt für die Dekanatsräte und die Diözesanräte, bei uns also den Katholikenrat. Alle diese Gremien haben beratende Funktion. Doch ein priesterlicher Mitbruder bis hin zum Bischof wird gut beraten sein, die in dem jeweiligen Gremium gefaßten Beschlüsse zu unterschreiben, wenn ihm nicht wirklich sein Gewissen etwas anderes sagt oder fundierte theologische Gründe entgegenstehen. Wo das praktiziert wird, ist zwischen Beraten und Entscheiden nur noch ein ganz kleiner Unterschied.
In der DDR haben die Familienkreise eine wichtige Rolle gespielt. Ist dies auch heute eine Form, bewußt Christsein miteinander zu leben?
Ich wünsche mir, daß es ganz viele solcher Kreise gibt, gerade angesichts unserer pluralen Wertewelt. Es ist gut, wenn Christen in solchen Kreisen zusammenkommen, um sich über ihre Fragen und Probleme in unserer heutigen Situation auszutauschen, Sorgen auszusprechen - etwa mit ihren Kindern, die auch in dieser pluralen Welt leben -, oder um zu fragen: Wie kommst du denn zurecht mit deiner Arbeitslosigkeit? Ich halte die Familienkreise nach wie vor für sehr wichtig und bin mir dabei der Konkurrenz zu den Verbänden durchaus bewußt. Entscheidende Größen aber sind Gemeinde, Bistum, Weltkirche. Die Verbände sind eine zusätzliche Angelegenheit.
Es gibt immer weniger Priester - Sie haben es gerade selbst angedeutet. Welche Alternative sehen Sie?
Für Gemeinden ohne Priester ist eine Kontaktperson wichtig. Das kann eine engagierte Familie sein, eine Gemeindeassistentin oder ein Ständiger Diakon. Bisher ist der Ständige Diakon in unserem Bistum immer der hauptamtliche Ständige Diakon gewesen. Für die Zukunft wünsche ich mir, daß es Ständige Diakone im Neben- und Ehrenamt gibt. Dabei sollte im Dienst der Ständigen Diakone die diakonische Grundfunktion der Kirche neben der pastoralen Aufgabe noch deutlicher zum Tragen kommen. Ich wünsche mir auch, daß bald Frauen zu Diakonen geweiht werden. Genauso für denkbar halte ich, daß wir verheiratete Priester in den Gemeinden haben könnten und daneben Priester im zölibatären Stand als Lehrer der Gemeinden.
Wie könnte die Aufgabe der zölibatären Priester dann aussehen?
Sie könnten die "Eingreiftruppe" des Bischofs sein. In der Frühen Kirche gab es den Stand der Lehrer, also der theologischen Fachleute. Solche Fachleute brauchen wir auch künftig. Sie können eine Zeit in dieser, und eine Zeit in der anderen Gemeinde leben und den großen Kontakt herstellen zwischen den Gemeinden und hin zum Bischof. Dabei könnten sie die christliche Glaubenslehre verkünden und die Erfahrungen der einzelnen Gemeinden weitertragen.
Sie haben 1980/75 an der Dresdner Pastoralsynode teilgenommen. Ist es Zeit, im Bistum Magdeburg oder für den Bereich der neuen Länder wieder eine Synode abzuhalten? Viele West-Diözesen haben solche pastoralen Prozesse in letzter Zeit ja durchgeführt.
Ob die Zeit reif ist für eine Synode im Sinne kirchenrechtlicher Verbindlichkeit, da habe ich meine Fragen. Aber ein pastorales Forum, dessen Ergebnisse am Ende die Unterschrift des Bischofs erhalten, wäre in unserer Diözese angebracht. Auch auf überdiözesaner Ebene könnte ein solcher Vorgang sinnvoll sein. Allerdings würde ich es nicht auf ostdeutscher Ebene, sondern für die Diaspora-Bistümer Deutschlands befürworten.

Interview: Eckhard Pohl

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 1 des 48. Jahrgangs (im Jahr 1998).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 04.01.1998

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