Lieber nach Rußland pilgern als in den Süden fliegen
Herzberger Bauarbeiter nimmt seit Jahren an internationalen Wallfahrten teil
Herzberg (tdh) - "Wieso fliegst du für das Geld nicht lieber irgendwo in den Süden und legst dich gemütlich in die Sonne?" Bei Kollegen und Bekannten stößt der 38jährige Herzberger Michael Scholz mit seiner unkonventionellen Art, Urlaub zu machen, nicht immer auf Verständnis. Seit fast 20 Jahren schließt er sich regelmäßig Wallfahrergruppen an, die an heiligen Stätten Begegnungen mit der Kirche und Menschen vor Ort, mit Geschichte und Landschaften, anderen Pilgern und sich selbst suchen. Zu DDR-Zeiten pilgerte er nach Polen. Nachdem das durch die Verschärfung der politischen Lage Polens nicht mehr möglich war, nahm er teil am Wallfahrtsweg von Magdeburg zum Klüschen Hagis
An einem Katholikentagsstand stieß er nach der Wende schließlich auf Gleichgesinnte aus den alten Bundesländern, die 1983 in St. Augustin die "Gesellschaft zur Förderung europäischer Wallfahrten und christlicher Zusammenarbeit" - kurz: "Europawallfahrt" - gegründet haben. Sie wollen an alte europäische Wallfahrtstraditionen anknüpfen, gleichzeitig aber offen sein für neue Formen des Pilgerns
Seither nahm Michael Scholz an Europawallfahrten mit Teilnehmern unterschiedlicher Nationalitäten nach Siebenbürgen, in die Tschechoslowakei, die Türkei, nach Malta und nach Rußland teil. Im vergangenen Herbst stand eine Pilgerfahrt zu Heiligtümern der orthodoxen Kirche auf dem Programm, nach St. Petersburg, Pskow, und Nowgorod. Die äußeren Umstände der zehntägigen Fahrt waren abenteuerlich: drei Tage lang gab es in einer Schule, die als Übernachtungsquartier diente, kein Wasser, einen Tag lang keinen Strom. "Hätten wir bei einem Reisebüro gebucht, hätten wir unser Geld zurückverlangt", sagt der Bauarbeiter aus Herzberg schmunzelnd. "Stattdessen haben wir die Situation angenommen und uns gesagt: ,Die Menschen, die hier leben, müssen solche Bedingungen viel länger hinnehmen. Sie können unser Geld brauchen.'
Die Kontakte mit einheimischen Christen waren für Michael Scholz und seine Mitpilger wichtiger als ein paar Mark mehr oder weniger im Portemonnaie. Begeistert erzählt er von ausgedehnten abendlichen Gesprächen mit einem orthodoxen Pfarrer und seiner gastfreundlichen Frau. Aus ähnlichen Begegnungen sind bereits dauerhafte Brieffreundschaften entstanden
Auch die Gemeinschaft mit anderen Pilgern hält er für wichtig: Auf längeren Fußwallfahrten hat er oft erlebt, daß ein durstiger Wallfahrer seinen letzten Schluck Wasser mit den anderen teilt oder daß den Älteren eine Wegstrecke lang der Rucksack abgenommen wird. Tägliche gemeinsame Gottesdienste und Gebetszeiten prägen das Miteinander. Bei jeder Wallfahrt steht für ihn ein anderes Anliegen im Vordergrund. In Rußland betete er für seine Freunde Christine, Paul, Christoph und Enrico, die gerade in einer Notlage waren. "Ich wollte ihnen mit dieser Wallfahrt ein wenig von ihrer Last abnehmen", erzählt er
Nähere Information: Europawallfahrt, Msgr. Dr. Gerhard Specht, Bergruthe 9, 58093 Hagen. Dort ist auch das aktuelle Programm erhältlich, das Angebote unterschiedlicher Veranstalter enthält, die dem Anliegen des Vereins entsprechen, darunter der ökumenische Pilgerweg in Mecklenburg oder eine Wallfahrt auf dem Weg der heiligen Familie in Ägypten gemäß der Tradition der koptischen Kirche
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 18.01.1998