20 Prozent unter dem normalen Ladenpreis
Caritas eröffnete in Halle Lebensmittelgeschäft für Bedürftige
Halle (tdh) - Immer mehr Familien in Deutschland leben an der Armutsgrenze. Auch in Halle nimmt nach Einschätzung des Dekanats-Geschäftsführers der Caritas, Winfried Weber, die Zahl der Familien stetig zu, die durch langjährige Arbeitslosigkeit "wirtschaftlich ausgezehrt" sind. "Für Armut braucht sich keiner zu schämen", betont er. Mit einem preisgünstigen Lebensmittelgeschäft, das die Caritas am vergangenen Dienstag in Halle eröffnet hat, soll Sozialhilfeempfängern und anderen Bedürftigen eine bewußt sparsame Haushaltsführung erleichtert werden
Im "Carisatt"-Laden wollen Caritas-Mitarbeiter Lebensmittel und andere Waren des täglichen Bedarfs anbieten, die sie verbilligt aufkaufen konnten: Restposten, Konkursmasse und Waren mit fehlerhaften oder beschädigten Verpackungen. Bei Carisatt einkaufen dürfen Arbeitslosen- und Sozialhilfeempfänger, Obdachlose, aber auch Menschen mit kleinen Renten oder geringem Familieneinkommen, die knapp über den Einkommensgrenzen für ergänzende Sozialhilfe liegen
Hat beispielsweise eine Familie mit zwei Kindern monatlich weniger als 2250 Mark Nettoeinkommen zur Verfügung, stellen die Wohlfahrtsverbände der Stadt ihnen eine Carisatt-Einkaufsberechtigung aus. Für Arbeitslosen- oder Sozialhilfeempfänger gilt auch der "Halle-Pass", den rund 20 000 Hallenser besitzen, als Einkaufs-Berechtigung. Die Carisatt-Preise liegen ungefähr bei 80 Prozent des Durchschnittspreises, schätzt Winfried Weber. Durch das eingesparte Geld soll den Kunden die Möglichkeit gegeben werden, "etwas Geld übrig zu behalten für eine selbstbestimmte Lebensführung und zur Teilnahme am gesellschaftlichen Leben", heißt es in der Konzeption von Carisatt. Für drei Langzeitarbeitslose, die älter sind als 55 Jahre, hat die Caritas im Laden feste Arbeitsplätze geschaffen. Vorbilder für die "Carisatt"-Idee fanden Weber und seine Mitarbeiter in der Schweiz und in Mecklenburg-Vorpommern
Der Caritas-Geschäftsführer ist zuversichtlich, daß das Projekt zur Belebung der Nachbarschaftshilfe im Stadtteil beitragen kann: "Die Bereitschaft zur Hilfe ist sehr groß. Oftmals bedarf es nur eines kleinen Anstoßes", sagt er. Denkbar wäre zum Beispiel, eine Ecke des Ladens als Dienstleistungsbörse zu nutzen. Dort könnten Menschen eine Nachricht hinterlassen, die Hilfe beim Kohletragen brauchen, oder die bereit sind, als Babysitter einzuspringen
Genau geplant ist dies noch nicht. Die Carisatt-Mitarbeiter vertrauen darauf, daß allein das Umfeld des Ladens schon zur Kommunikation anregt: Kleine Einzelhandelsgeschäfte hatten schon immer auch eine soziale Funktion. Die Ausbreitung moderner Großmärkte hinterläßt in dieser Hinsicht eine Lücke
Etwa 20 katholische Jugendliche aus allen Gemeinden der Stadt machen als "Schnelle Eingreiftruppe" bei Carisatt mit. Am Misereor-Sonntag des vergangenen Jahres hatten sie Jugendgottesdienste zum Thema "Armut" vorbereitet und dabei die wachsende versteckte Armut in ihrer eigenen Umgebung ins Bewußtsein gerufen
Der Stadthelferkreis der katholischen Jugend entwickelte eine Reihe von Ideen, was man tun könnte, um den Betroffenen zu helfen. Einer der Jugendlichen hatte gesehen, wie eine Zellstoff-Taschentuchfirma einen ganzen Container ihrer Ware wegschüttete, nur weil die Farbe auf der Packung nicht korrekt war. "Könnte man solche Ware nicht Bedürftigen zur Verfügung stellen?" überlegten sich die Jungen und Mädchen. Bei der Caritas erfuhren sie, daß die Planungen für einen Carisatt-Laden bereits begonnen hatte. Im vergangenen November gründeten sie einen Stadtverband des Bundes Deutscher Katholischer Jugend, um als Gruppe der Caritas beitreten und auf diese Weise das Projekt unterstützen zu können
Die ersten Arbeitseinsätze haben die Jugendlichen bereits hinter sich: Im Dezember halfen sie, die Einrichtung des angemieteten Ladens zu streichen. In diesen Tagen transportierten sie eine größere Zuckerlieferung, die in der Caritas-Geschäftsstelle eingegangen war, in die Verkaufsstelle. Wenn die Verkäufer Hilfe brauchen, rufen sie kurzerhand den Gemeindereferenten der Halleschen Heilig-Kreuz-Gemeinde, Karl Kindl, an. Der kennt die Telefonnummern aller Jugendlichen und kann ein Helfer-Team zusammenstellen
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 01.02.1998