Seilbahnfahrt für Rollstuhlfahrer
Ökumenischer Behindertenkreis in Merseburg feiert 20. Geburtstag
Merseburg (dw) - "Ohne die Gruppe wäre mein Leben ganz schön öde", sagt Stephan Freigang voller Überzeugung. Der Rollstuhlfahrer gehört zum ökumenischen Behindertenkreis in Merseburg, der am 7. Februar sein 20jähriges Bestehen feiert. Behinderte und nichtbehinderte Christen beschlossen Ende 1977 auf Initiative von Caritas und Diakonie, diesen Kreis zu gründen
Sie wollten persönliche Kontakte knüpfen, Erfahrungen austauschen, gegenseitige Vorbehalte und Ängste abbauen und lernen, mit der eigenen oder der Behinderung anderer umzugehen. Schon bald kamen auch nichtchristliche Mitglieder hinzu. Oftmals waren gerade sie es, die besonders energisch auf die christliche Prägung des Kreises pochten
Als Stephan Freigang in den 80er Jahren auf den Behindertenkreis stieß, befand er sich gerade in einer Lebenskrise: Der bis dahin gesunde junge Mann war plötzlich auf den Rollstuhl angewiesen. Als er nach langen Wochen aus dem Krankenhaus kam, verließ ihn seine damalige Verlobte. In der ökumenischen Gruppe hat er Menschen gefunden, die ihn verstehen, mit denen er auch über schwierige Momente seines Lebens sprechen kann und die ihm immer wieder Vorbild sind, das eigene Leben mit Humor und Mut anzupacken. Nicht zuletzt freut er sich, daß er seine Frau Annette in der Gruppe kennen- und liebengelernt hat. Sie gehört schon von Anfang an dazu. Die Bedingungen, unter denen der Kreis in den Anfangsjahren arbeitete, sind mittlerweile der Historie zuzuordnen: Für die monatlichen Zusammenkünfte standen damals keine rollstuhlgerechten Transportfahrzeuge zur Verfügung. Mit Holzbohlen behalf man sich zum Beispiel, um einen Rohlstuhlfahrer in einen Barkas zu bugsieren. Zwar gab es eine lange Liste freiwilliger Helfer, die bei Bedarf Behinderte so gut es ging in ihren Privatautos chauffierten. Die wenigsten waren jedoch telefonisch erreichbar. Im katholischen St.-Josefsheim, in dem sich die Gruppe traf, gab es weder breite Türen noch eine Behindertentoilette. Ohnehin war es eher ein Zufallstreffer, irgendwo Toiletten, Sanitär- und Orthopädiehilfsmittel für Körperbehinderte zu finden. Die örtliche Tageszeitung weigerte sich in der Regel, Berichte über die Aktivitäten des Behindertenkreises zu veröffentlichen. Zeitweise war es dem Kreis nicht einmal erlaubt, für Ausflugsfahrten Omnibusse anzumieten
"Unsere Küche zu Hause war anfangs die reinste Rollstuhl-Werkstatt", erinnert sich Egbert Antkowiak. Als damaliger Caritas-Fürsorger war er ein Gründungsmitglied des ökumenischen Merseburger Behindertenkreises. Er und seine Mitstreiter ließen sich von widrigen Umständen nicht abschrecken und setzten alles daran, Körperbehinderten das Leben zu erleichtern und - wo immer es möglich war - öffentlich auf ihre Probleme aufmerksam zu machen. Bei gemeinsamen Ausflügen entwickelten sie einen geradezu sportlichen Ehrgeiz, all das zu tun, was einem Rollstuhlfahrer alleine nicht möglich ist: In Thale fuhren sie mit der Seilbahn, in der Russischen Kirche von Leipzig überwanden sie eine steile Wendeltreppe, in Görlitz unternahmen sie eine Kahnfahrt. Nie verging ihnen bei all diesen Unternehmungen die ansteckende Fröhlichkeit, selbst dann nicht, als ein schwergewichtiger Rollstuhlfahrer nur noch mit Hilfe der Feuerwehr aus dem steckengebliebenen Aufzug der Leipziger Oper befreit werden konnte
Bei Ausflugsfahrten und Rüstzeiten stieß der Kreis fast immer auf Wohlwollen, auch von Menschen, die zuvor noch nie Kontakt mit Behinderten gehabt hatten. Egbert Antkowiak beobachtet immer wieder, daß Männer und Frauen sich freuen, wenn sie um Hilfe gebeten werden. Sie haben das Gefühl, ihre Zeit für etwas Sinnvolles zu verwenden. Dieses Gefühl kennen die nichtbehinderten Mitglieder des Behindertenkreises ebenfalls
Antkowiaks Tochter Barbara Striegel erinnert sich an ein Gruppentreffen, bei dem Seidenmalen auf dem Programm stand. Eine spastisch gelähmte Frau war zutiefst glücklich: Zum erstenmal in ihrem Leben hatte sie etwas ganz alleine gebastelt. "Solche Erlebnisse geben mir Kraft und helfen Durststrecken zu überwinden, die wohl bei jeder ehrenamtlichen Arbeit dazugehören", sagt Barbara Striegel
Zu Beginn der 80er Jahre gestaltete der Behindertenkreis mehrere Informations- und Übungsabende für Merseburger Jugendliche. Sie konnten sich dort mit Behinderten über ihren Alltag unterhalten und ausprobieren, wie man einen Rollstuhlfahrer am besten anfaßt oder hochhebt. Nach der politischen Wende von 1989 hat sich das Leben für die Behinderten massiv verändert. Viele organisatorische Probleme sind weggefallen. Dazu hat in Merseburg auch Egbert Antkowiak beigetragen. Er übernahm die Leitung des Sozialamtes und konnte dort seine langjährigen Erfahrungen mit Behinderten einbringen
Unter anderem setzte er sich dafür ein, daß jeder Rollstuhlfahrer des Landkreises im Jahr 350 Kilometer kostenlos den örtlichen Fahrdienst nutzen kann und daß die Interessen Behinderter auch in der Städteplanung berücksichtigt werden
"An Bäume und Parkplätze denken Planer ganz selbstverständlich, aber nicht daran, wie ein Rollstuhlfahrer über die Straße kommt", sagt der mittlerweile pensionierte Amtsleiter. Ein großes Einkaufszentrum in der Nähe von Merseburg ist gemeinsam mit Behinderten geplant worden
Neue Ängste und Sorgen sind für viele der Behinderten mit der wachsenden Arbeitslosigkeit und Bürokratie verbunden. Seit gut zwei Jahren muß der Kreis ganz ohne hauptamtliche Leitung arbeiten
Damit die Behinderten mit den neuen Problemen nicht alleingelassen werden, hat der Kreis ein Leitungsteam gewählt und sich zusätzlich in Kleingruppen aufgeteilt. Über die monatlichen Gruppentreffen hinaus versuchen die Mitglieder nun, im kleineren Kreis von fünf bis sechs Mitgliedern intensiven Kontakt zu halten
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 08.02.1998