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Bistum Erfurt

Der Offene Brief im Wortlaut

Dokumentation

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler Dr. Kohl

in tiefer Sorge erleben wir in diesen Tagen, wie sich der seit der Golfkrise von 1990 und dem Golfkrieg von 1991 bestehende Konflikt zwischen dem Irak und weiteren Mitgliedsstaaten der UNO zu einem neuerlichen folgenschweren Krieg auszuweiten droht

Uns erscheint es, als seien wir in der gegenwärtig so angespannten wirtschaftlichen Situation in Deutschland kaum in der Lage, über den eigenen Tellerrand zu schauen und in aller Deutlichkeit dem Zeitgeist zu widersprechen, der neue Opfer im Namen von "Stärke und Entschlossenheit zeigen" fordert. Wir stehen in der Gefahr, die wirklichen Nöte der Menschheit aus dem Blick zu verlieren

"Wer ohne Schuld ist, werfe den ersten Stein" (Joh 8) lesen wir als einfache, aber eindringliche und tief berührende Botschaft im Neuen Testament, die Jesus jedem Menschen und jeder Regierung dieser Welt in das "Herz" schreibt. Gewiß, Saddam Hussein ist nicht die verängstigte Ehebrecherin, und ernste Bedrohungen sollten nicht verharmlost werden. Doch dieses Mal wurde kein Kuweit überfallen und ausgeplündert. Und dieses Mal gibt es keine Einigkeit der Staatengemeinschaft über das weitere Vorgehen gegenüber dem Irak. Jetzt schon steht fest, daß der "Erfolg" einer Militäraktion - soweit es überhaupt erlaubt ist, in solchen Kategorien zu denken - äußerst fragwürdig ist

Amnesty International listet Jahr für Jahr die Staaten dieser Welt auf, in denen die elementarsten Menschenrechte mit Füßen getreten werden. In vielen dieser Staaten gibt es Massenvernichtungswaffen. Niemand denkt daran, in diesen Staaten einzumarschieren oder deren Hauptstädte zu bombardieren. Auch wir selbst müssen uns den Spiegel vorhalten lassen, Deutschland war neben vielen anderen Staaten maßgeblich an der Aufrüstung des Iraks beteiligt

Am Ende dieses Jahrhunderts, wo es so unsagbar viel Leid und Völkermord durch Kriege gegeben hat, stehen wir vor der drängenden Aufgabe, friedliche Konfliktlösungen im zwischenstaatlichen Handeln zu suchen. Nicht immer wird das möglich sein, doch wir müssen alle Anstrengungen darauf richten

Bei aller Bereitschaft zu einem Militäreinsatz gegen den Irak erscheint es unglaublich menschenverachtend, daß in keinster Weise das Schicksal der betroffenen Bevölkerung in Betracht gezogen wird. Solange wir selbst geduldiges Ringen und einen langen Atem in der Suche nach Lösungen als "Schwäche" betrachten, wird es keinen Frieden auf dieser Welt geben

Wahre "Größe" und "Stärke" zeigen im Evangelium die Menschen, die den Stein schon erhoben haben und wieder aus der Hand legen

Wir möchten Sie deshalb inständig bitten, alles in Ihrer Macht stehende zu tun, um die Regierungen der USA und Großbritanniens zu veranlassen, von einem Militärschlag gegen den Irak abzusehen

Mit freundlichen Grüße

gezeichnet Stephan Riechel

Diözesanjugendseelsorge

gezeichnet Meinrad Bauer

Jugendreferent

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 7 des 48. Jahrgangs (im Jahr 1998).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 15.02.1998

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