Caritas weckt Menschen aus der Lethargie
Caritasarbeit in Pecs
Ein Herzinfarkt oder eine lebensbedrohende Verletzung. Der Rettungswagen wird gerufen, aber wann dieser in Hosszühetény ankommt, weiß noch keiner. Erste Hilfe leistet inzwischen Szilvia von der Caritasgruppe des Ortes. Sie und all die anderen Frauen, die von der Caritas Pecs in Erster Hilfe ausgebildet werden, sind oft die ersten Ansprechpartner. Viele der Dörfer um Pecs liegen zu abgelegen und viel zu weit voneinander entfernt. Ärztliche Hilfe ist nicht in jedem Fall sofort verfügbar.
Ganz andere, wichtige Arbeit leisten Julia Orsós und Mária Fekeres. Die beiden Zigeunerfrauen gehören zu einer Gruppe von jungen Leuten, die in Pecs bei der Caritas zu Sozialarbeitern für ihre Landsleute ausgebildet wurden. Zukünftig werden sie wissen, was einer Familie, einem arbeitslosen Jugendlichen oder einem alten Menschen an staatlicher oder kommunaler Hilfe zusteht. Sie werden Formulare ausfüllen, mit Behörden sprechen. Eine wichtige Aufgabe, leben doch die Zigeuner in Ungarn oft unterhalb des Existenzminimums. Ein Beispiel ist der Arbeitsmarkt: In Zigeunerdörfern liegt die Arbeitslosigkeit oft bei weit über 90 Prozent. Die Großbetriebe, in denen sie noch vor Jahren tätig waren, sind der wirtschaftlichen Umstrukturierung zum Opfer gefallen. Und als Ärmste der Armen fällt es den Zigeunern schwer, ihre Anliegen zum Ausdruck zu bringen. Menschen wie Julia Orsós und Mária Fekeres wollen sich in ihren Pfarrgemeinden darum kümmern, daß dies anders werden kann.
Zwei Beispiele nur, wie die Arbeit der Caritas sich bemüht, daß heutige gesellschaftliche Leben in Ungarn mitzuprägen. Doch dies ist in einem Land voller Widersprüche nicht einfach. Der Pecser Diözesancaritasdirektor Dr. Janos Szalay: "Wir müssen daran arbeiten, die Mentalität der Ungarn zu verändern. 40 Jahre lang hatten sie immer nur gehört, daß es bei uns keine Armen gibt. Das war und ist ein Trugschluß. Jetzt treten die Probleme immer schärfer auf, Armut und Elend sind sichtbar geworden. Aber nicht wenige meinen, der Staat soll helfen. Wir aber sagen, jeder soll helfen. Unsere sozialen Probleme sind eine Aufgabe für alle". Einen Lösungsansatz sieht der Pecser Caritaschef in der katholischen Soziallehre. Doch die ist in Ungarn bei vielen unbekannt. So übernimmt die Caritas auch die Aufgaben, die in Deutschland von den Katholischen Akademien wahrgenommen werden: eine breite Bildung der katholischen Christen. Wobei das Soziale im Mittelpunkt der Diskussionen steht.
Besonders erschwerend kommt allerdings bei allen Bemühungen hinzu, daß es staatlicherseits kaum Unterstützung für die Aufgaben der Kirche und ihrer Caritas gibt. Diese wird besonders in Fragen der Akzeptanz verweigert. Die derzeitige Koalition aus alten Kommunisten und Liberalen steuert vielmehr einen antikirchlichen Kurs. Und ob die Erwartungen auf einen politischen Wechsel bei den diesjährigen Parlamentswahlen erfüllt werden, ist zur Zeit sehr fraglich. Mit Blick auf diesen Hintergrund bleibt eine Kirche, deren Glieder sich aktiv in demokratische und gesellschaftliche Prozesse Ungarns einbringen, geradezu eine Notwendigkeit.
Dr. Janos Szalay weiß, daß es bereits heute überall im Lande Menschen gibt, die sich dafür engagieren. Übermorgen beispielsweise wird er eine Caritasgruppe besuchen, in der vor allem Pädagogen mitarbeiten. Sie nutzen ihre Talente ganz unkompliziert: Arme Kinder werden außerhalb der Schule unterrichtet. Oder die Ärztin, die vor alten Leuten Vorlesungen über gesunde Lebensweise hält. Nicht zu vergessen die Frauen und Männer in der Gartenstadt von Pecs, die dafür sammeln, Essen für Bedürftige zu verteilen, was sie auch selber kochen. All das passiert völlig ehrenamtlich.
Insgesamt kann sich Dr. Szalay bereits auf 13 Gruppen in seinem Bereich verlassen. Es wird aber darauf ankommen, die karitative Arbeit in den Gemeinden weiter auszubauen. "Wir brauchen neue Gruppen und einen guten Zusammenhalt untereinander", betont Janos Szalay. Wichtig ist es außerdem, den Frauen und Männern die nötige Bildung mit auf den Weg zu geben. Doch selbst das hat seinen Preis. Ein Kurs für 60 Leute - 72 Lehrstunden plus ein Ausflug in eine soziale Einrichtung - kostet beispielsweise 100 000 Forint (ca. 950 Mark).
Karitative Arbeit ist in Ungarn erst seit 1988 wieder möglich geworden. Davor sprachen die kommunistischen Machthaber der Kirche dieses Grundrecht ab. Doch die Genehmigung war für den kommunistischen Staat keine Einsicht sondern im Grunde eine Notwendigkeit. Es war die Zeit, als aus dem benachbarten Rumänien die dort seit Jahrhunderten lebenden Ungarn zu Tausenden flüchteten. Sie hatten als nationale Minderheit genauso wie die Deutschen in Siebenbürgen unter dem Regime Ceausescu zu leiden. Doch während die Deutschen von Bonn für viel Geld freigekauft wurden, hatte der ungarische Staat dazu kein Geld. So blieb nur der Weg, Rumänien über den Fluchtweg zu verlassen. Dieser Flüchtlingsstrom stellte das kommunistische Ungarn vor große Probleme
Die Kirche sollte und wollte helfen. Über 5000 Frauen, Kinder und Männer nahm die neue Caritas Pecs bis 1991 auf. Mit ihrer Gründung begann Dr. Janos Szalay einen Aufgabe in einem Alter, wo in anderen Ländern die Priester zumeist in den Ruhestand gehen. 1988 war er 65. Das ist nun zehn Jahre her. Doch kaum war diese erste große Aufgabe für ihn und seine Mitarbeiter abgeschlossen, kamen wieder Tausende Heimatlose in die Region. Diesmal aus dem verfallenden Jugoslawien. Die Caritas beteiligte sich an der Einrichtung eines Flüchtlingslagers. Von der Zentrale in Pecs aus wurden regelmäßig Lebensmittel und Bekleidung ausgeteilt. Hilfe kam aus Österreich, Schweden, Deutschland, Dänemark und Holland. Insgesamt, so schätzt Szalay ein, wurde ein Hilfsvolumen im Wert von 500 Millionen Forint (damals rund fünf Millionen Mark) an die vertriebenen Südslawen weitergegeben.
Die Situation entspannte sich erst ab dem Jahr 1994, mit dem Beginn der Heimkehr in die Nachfolgestaaten Jugoslawiens. Heute leben noch rund 2000 Flüchtlinge in und um Pecs. Viele von ihnen kommen aus einem ehemals jugoslawischen Dorf in dem nur Ungarn lebten. Jetzt bewohnen Serben die Häuser und sie sagen, daß sie sonst auch keinen Heimat mehr hätten. In Ungarn werden die Vertriebenen weiter auf Hilfe der Caritas angewiesen sein. Eine Arbeitserlaubnis erhielten sie nicht. Caritasdirektor Szalay: "Sie blieben hier zurück, sind arm und können nur gelegentlich arbeiten. Einige haben von ihren Gemeinden ein Stück Boden bekommen, halten einige Tiere. So leben sie zwar arm, aber doch können sie leben."
Mit der Entspannung ab 1994 konnte sich die Caritas Pecs endlich verstärkt um die eigene alltägliche Not sorgen. In diesem Jahr wurde begonnen, die ehrenamtliche Caritasarbeit aufzubauen. Inzwischen wuchs die Zahl der ehrenamtlichen Helfer auf rund 400 an.
Janos Szalay berichtet, daß es zwischen den einzelnen Gruppen große Unterschiede gibt. Es gibt beipielsweise eine im Termalbadeort Harkany, die aus eigener Kraft genügend Mittel zusammentragen kann, um im Winter bedürftige Menschen mit Heizmaterial zu versorgen. Eine andere wiederum arbeitet im stockarmen Komlo, rund 20 Kilometer von Pecs entfernt. Dort ist die Lage besonders brisant. In den vergangenen Jahrzehnten sollte Komlo zu einer sozialistischen Bergarbeiterstadt werden. Nach Schließung der Kohlegruben hat die Stadt eine besonders hohe Arbeitslosigkeit. Viele Menschen sind ohne Ausbildung. In dieser Situation arbeitet eine der 13 ehrenamtlichen Caritasgruppen. Und wie Janos Szalay nicht ohne Stolz sagt: "Es ist die stärkste in der Diözese Pecs."
Ungarn ist ein Land, zu dem Klischeebilder nicht passen. Zwar gibt es das reiche Ungarn der wenigen, doch die meisten Menschen leben jenseits von spätem Gulaschkommunismus und Balaton. Und Remény - deutsch Hoffnung - geben ihnen all diejenigen, die sich heute in der Gesellschaft Ungarns engagieren. Menschen wie die 400 ehrenamtlichen Caritasmitarbeiter in der Diözese Pecs. Menschen wie Szilvia, Juliá, Maria und Dr. Janos Szalay.
Holger Jakobi
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 01.03.1998