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Bistum Dresden-Meißen

Mir geht es schlicht beschissen

Soziales Seminar

Leipzig (leo) - Dem 40jährigen Tiefbauingenieur B. schien die Welt zu Füßen zu liegen. Er war fast zehn Jahre lang glücklich verheiratet, hat ein Kind und war mit seinem Beruf zufrieden. Doch dann kam die Arbeitslosigkeit und nach zwei Jahren ist der Mann, der sich sonst als dynamisch und aktiv kennt, resigniert und verzweifelt

Die 48. Bewerbung habe er aus bloßer Routine abgeschickt, ohne die Hoffnung, eine Arbeitsstelle zu bekommen. Ohne ein konkretes Ziel vor Augen vergeht für ihn jeder Tag nur quälend langsam. Würde er sich umbringen, so würde ihn wohl kaum jemand vermissen, beschreibt er seine gelegentlich aufkommenden Selbstmordabsichten. Nur ein Fall von vielen, die an einem Gesprächsabend im Rahmen des Leipziger Sozialen Seminars unter Leitung von Erich Heider, Initiator einer kirchlichen Arbeitslosengruppe, und in Zusammenarbeit mit der Kirchlichen Erwerbsloseninitiative Leipzig angesprochen wurde

Wichtig waren Erich Heider dabei vor allem die individuellen Probleme und psychischen Folgen der Arbeitslosigkeit. Arbeitslose und nicht Betroffene dachten anschließend in kleineren Gesprächsrunden gemeinsam über mögliche Konflikte und Lösungsmöglichkeiten nach. Viele von dem Problem Betroffene beklagten, mit der Arbeit auch das Selbstwertgefühl zu verlieren und sich "zu nichts mehr nütze" zu fühlen, da man von der gesellschaftlichen Gestaltung abgeschnitten ist

"Mir geht es schlicht beschissen", klagt eine Langzeitarbeitslose. "Das Leben hat seinen Sinn verloren. Und wenn das Arbeitslosengeld erst ausläuft, wird es finanziell sehr eng." Erich Heider riet, sich neue Aufgaben zu suchen, so schwierig dies auch sei. Durch die Arbeitslosigkeit gingen den Betroffenen viele soziale Kontakte verloren, da sie nicht mehr wüßten, worüber sie sprechen sollten. Dennoch müsse man als Arbeitsloser "irgendwo dazu gehören". Wichtig sei auch, sich klar zu machen, das Arbeitslosigkeit hauptsächlich ein Strukturproblem ist, an dem man selbst keine Schuld trägt, betonte ein anderer Betroffener

"Es fällt schwer, dem Tag eine Ordnung zu geben, da man nicht weiß, warum", benennt Erich Heider ein weiteres Problem, mit dem viele Arbeitslose zu kämpfen haben. Als ehemals Betroffener weiß er, wovon spricht. Dennoch sei es ungeheuer wichtig, aufzustehen, die Wohnung zu verlassen und sich nicht einzuigeln, betont er. Für nicht Betroffene sei es sehr unangenehm, sich solche Gedanken zu machen, da ganz automatisch ein "hoffentlich-nicht#Denken" entwickeln würde, so eine Teilnehmerin. Dennoch sei es eine Art heilsames Mitleid, sich gezielt mit Folgen der Arbeitslosigkeit auseinanderzusetzen. Schließlich könne sie jeden treffen

Barbara Heider referierte am Ende der Veranstaltung einige psychologische Grundlagen, wie Menschen auf jede Form von Verlust reagieren. Am schwierigsten sei, so betonte sie, endgültig von etwas Abschied zu nehmen. Im Falle des Verlustes des Arbeitsplatzes ist dies wie das Gefühl, die Stadt sei eine Arche Noah, und man selber stehe draußen

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 9 des 48. Jahrgangs (im Jahr 1998).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 01.03.1998

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