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Bistum Magdeburg

Leben vor der Finsternis des Holocaust

Synagogen-Besuch

Dort wo einst die Grenzen von Anhalt, Preußen und Sachsen zusammenstießen, entwickelte sich in der Mitte des 18. Jahrhunderts ein Gemeinwesen, in dem Deutsche und Juden eng und freundschaftlich zusammen lebten. Noch heute erinnert die Gröbziger Synagoge mit dem Kantorenhaus und der kleine jüdische Friedhof an diese Zeit

In den Schriften des Gröbziger Heimatdichters Leo Löwenthal - im Museum heute teilweise in Neudrucken erhältlich - wird das Vergangene lebendig. So auch Rebbe Hirsch, der Vorbeter der jüdischen Gemeinde zur Mitte des vergangenen Jahrhunderts, der im Kantorenhaus lebte

Leo Löwenthal beschreibt in der Erzählung "Achtundvierzig" folgende Szene: "Rebb Hirsch ergreift den umfangreichen, mohnbestreuten Sabbatbarsches und beginnt zu schneiden. Das ist schon seit Beginn der Ehe ein Ehrenamt, daß er sich nicht nehmen läßt. Zuerst waren es zwei Brote - für sein junges Weib und für sich; dann wurden es drei! Mit welcher Seligkeit er das dritte Stück für sein Erstes geschnitten... und nun? Ringsum haften verlangende Augen an Hand und Messer, ob nicht ein Stück - Gott behüte - zwei Krumen mehr enthält, als das andere, und er verteilt und schneidet und zählt...für Saare...für Tanchem...für Zipperle... Pune...Meyer und immer so weiter bis Mathieschen sein größtes Stück erhält, denn das ist seit achtundzwanzig Jahren Tradition in der Familie - das Nesthäckchen erhält immer seine Zugabe."

Die Juden von Gröbzig gehörten zur orthodoxen Richtung des Judentums, im Gegensatz zur Gemeinde in Dessau, die sich als liberal verstand. Die Gröbziger Synagoge wurde im Jahr 1780 gebaut. Ihr heutiges Ausehen erhielt sie nach dem Umbau 1857. Über die Bedeutung der Synagoge schreibt der holländische Rabbiner de Vries (1944 in Bergen-Belsen ermordet): "Will man wissen, was die jüdische Synagoge ist, darf man sie nicht mit der allgemeinen Vorstellung vergleichen, die man von einem Gotteshaus aus der näheren Umbegung hat. Zuerst müßte man das Bild der Kirche völlig aus den Gedanken verbannen. Denn allein ihr Name beinhaltet etwas ganz anders. Das griechische Wort Synagoge gibt denn auch sinngemäß den hebräischen Ausdruck Beth Haknesset wieder, was ,Haus der Versammlung' bedeutet."

De Vries macht weiter deutlich, daß der Puls des Judentums immer dort am stärksten schlägt, wo gelehrt wird. Eben in der Synagoge. Und immer wenn im Laufe der leidvollen Geschichte des jüdischen Volkes Juden an einem Ort zusammenkamen, begannen sie sofort sich zu treffen, zu beten und zu lernen

Gröbzig der kleine Ort, etwa 15 Kilometer von Köthen gelegen, bot den Juden ab Mitte des 17. Jahrhunderts ein Zuhause. Von hier aus konnten sie gut Handel treiben, es war beispielsweise nicht weit bis Leipzig. Dazu kam der Gröbziger Jahrmarkt. 1693 stellte die anhaltinische Regentin Henriette Catharina und 1702 Fürst Leopold Schutz- und Schirmbriefe "für die Judenwirtschaft im ganzen Land" aus. Diese waren für die verstärkt zuziehenden Juden gegen eine hohe Schutzgebühr erhältlich

60 Jahre nach dem Schutzbrief der Regentin wohnten in Gröbzig 40 jüdische Familien. Im Laufe der Jahre hatte der Ort einen jüdischen Bevölkerungsdurchschnitt von 15 Prozent. In der Kleinstadt fanden sie ganz andere, freiere Bedingungen vor, als in zugewiesen Ghettos. So kam es zu einer Akzeptanz zwischen Deutschen und Juden. Seit Anfang des 19. Jahrhunderts erhielten die Juden dann schrittweise die Bürgerrechte. Wieder Jahre später standen ihnen alle bisher über Jahrhunderte verweigerten Wege in der Gesellschaft offen. Ein berühmter Gröbziger Juden dieser Zeit ist beispielsweise der 1822 geborene Heymann Steinthal. In Berlin studierte er Philologie und Philosophie und wurde zu einem der bedeutendsten deutschen Sprachwissenschaftler. Sein Grab befindet sich auf dem jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee

Zur Zeit der Machtergreifung der Nationalsozialisten lebten in Gröbzig nur noch wenige Juden, zumeist ältere Menschen. Die Synagoge und die dazugehörigen Gebäude wurden 1934 der Stadt verkauft, die darin ein Heimatmuseum einrichtet. Es gelang einigen engagierten Gröbzigern, die Gebäude vor beabsichtigter Zerstörung zu retten und bereits in den Nazi-Jahren Kultgegenstände des Judentums zu erwerben oder zu schützen

Heute sind sie Zeugen einer Zeit, die nicht zurückzubringen ist. Über Halle oder Berlin verliert sich ab 1939 die Spur der letzten in Gröbzig wohnhaften Juden in der Finsternis von Theresienstadt und Auschwitz. Ihre Namen sind: Ernst Blumenthal und Emmi Blumenthal, Berthold, Marie und Johanna Karger, Henriette Löwenthal, Johanna Salazin, Henriette Schlesinger und Rosalie Meyerstein

Heute wird Gröbzig wieder von zahlreichen Menschen besucht, die sich für das Judentum und das Schicksal seiner Menschen interessieren. So ist Gröbzig eine Einladung für Christen - vielleicht gerade jetzt in der beginnenden Woche der Brüderlichkeit -, von den älteren Geschwistern im Glauben zu lernen und in die faszinierende Welt jüdischer Frömmigkeit einzutauchen

Abschließend dazu noch einmal Rebbe Hirsch im Buch von Leo Löwenthal. Seiner im Moment gerade traurigen Tochter sagt der Rebbe: "Wozu Tränen?...wein, so dich der Himmel heimsucht; dann hast de Ursach zu verzweifeln."

(jak)

Öffnungszeiten: dienstag bis donnerstag 10 bis 12 Uhr und 14 bis 17 Uhr, freitags von 10 bis 12 Uhr und sonntags von 14 bis 17 Uhr

Anschrift: Museum Synagoge Gröbzig, Lange Straße 8 bis 10 in 06388 Gröbzig, Tel. 034976 / 22 209

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 10 des 48. Jahrgangs (im Jahr 1998).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 08.03.1998

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