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Aus der Region

Die schöpferische Kraft Gottes

900 Jahre Hildegard von Bingen

Vor 900 Jahren wurde Hildegard von Bingen geboren. Was hat diese mittelalterliche Prophetin modernen Menschen zu sagen? Ein Interview mit Dr. Hildegund Keul, Frauenreferentin des Bistums Magdeburg:

Frage: Die Äbtissin des Benediktinerinnenklosters Eibingen spricht von einer regelrechten Hildegard-Renaissance, die nach den Feiern zu ihrem 800. Todestag im Jahr 1979 eingesetzt habe. Was interessiert Menschen heute an Hildegard von Bingen?

Keul: Auf besonderes Interesse stößt in unserem Jahrhundert ihre faszinierende Vielseitigkeit. Hildegard von Bingen war auf vielen Gebieten auf der Höhe ihrer Zeit. Zum Beispiel kannte sie sich sehr gut in der Musik aus, komponierte selbst und schrieb viele Lieder. Die Gregorianik hat sie aufgegriffen, gleichzeitig aber auch gesprengt. Sie hat Pflanzenforschung und Medizin betrieben und diese Wissensgebiete in ihren Büchern ganz neu beschrieben. Sie war eine gute Heilerin. Sie hat zwei Klöster gegründet und geleitet, war Theologin und Philosophin. Viele Gebiete, die wir heute nicht mehr zusammen sehen, hat sie in ihrem Leben verkörpert. Anregung zum Nachdenken über das eigene Leben gibt ihr "ganzheitlicher Ansatz", wie wir heute sagen würden. Als Heilerin zum Beispiel hat sie auf das Zusammenwirken von Körper, Geist und Seele geachtet. In der Mystik findet all das, was bei uns oft auseinanderfällt, seine Einheit

Frage: Im Zusammenhang mit Hildegard von Bingen taucht häufig der Begriff "Prophetin" auf. Sie beschreibt in ihren Schriften visionäre Erlebnisse. Was macht eine Prophetin aus?

Keul: Die meisten verstehen unter einer Prophetin, wenn sie denn überhaupt eine Vorstellung haben, eine Frau, die weiß, was in der Zukunft passieren wird. Ich denke, es gehört mehr dazu, Prophetin zu sein: Eine Prophetin kennt die Geschichte, in der sie selber steht und weiß, was aus der Vergangenheit die eigene Gegenwart prägt. Sie ist aufmerksam für das, was aktuell passiert und in die Zukunft reicht. Prophetie ist nicht Hellseherei, sondern sie erwächst der Aufmerksamkeit

Frage: Hildegard hat 40 Jahre hinter Klostermauern gelebt. Woher konnte sie wissen, was in der Welt los war?

Keul: Das Leben hinter Klostermauern stellen wir uns oft als etwas ganz Abgeschottetes vor. Die Klöster waren im Mittelalter jedoch wichtige Treffpunkte. Menschen, die Rat und Hilfe suchten, sind mit ihren Sorgen ins Kloster gegangen, einfache Menschen ebenso wie solche, die in Politik und Kirche das Sagen hatten. Hildegard war als Ratgeberin sehr berühmt, deshalb sind zu ihr besonders viele maßgebliche Leute aus Politik und Kirche gekommen

Frage: Hat sie sich auch eingemischt in die Politik?

Keul: Ja, sie hielt es für wichtig, daß die Politik von christlichen Werten bestimmt ist und hat deshalb Briefverkehr mit verschiedenen geistlichen Würdenträgern gehabt, auch mit den Menschen, die politisch bestimmend waren. Mehrmals hat sie zum Beispiel an den Papst geschrieben, an Bischöfe und Äbtissinnen. Wenn sie den Eindruck hatte, in der Politik ist etwas nicht so gelaufen, wie es ihr aus christlicher Perspektive richtig erschien, hat sie manchmal auch zornige Briefe geschrieben

Frage: Sie war Theologin, hat sich mit der Bibel befaßt und versucht, sie zu übersetzen. Hat sie einen neuen Impuls in die Theologie eingebracht, die damals ja doch eher noch eine Männerdomäne war?

Keul: Sie hat den Körper als Geschenk Gottes betrachtet und gesagt, der Körper darf nicht verdammt werden, man muß ihn wichtig nehmen, er kann dem Menschen Dinge sagen, die für sein Leben wichtig sind. Die Hochschätzung des Körpers und der gesamten Schöpfung in ihrer Schönheit und Vielfalt wurde in der Scholastik nicht in dem Maße betont. Dort waren eher körperfeindliche Tendenzen bestimmend. Übrigens sagte schon Hildegard, daß die Menschen nicht sorgsam genug umgingen mit den Lebewesen um sie herum, die auch für ihr eigenes Leben wichtig seien. In ihren Schriften zeigt sie auch eine große Hochschätzung der Luft, die wir zum Atmen brauchen. All dies ist interessant zu lesen in einer Zeit, wo die Umweltzerstörung noch sehr viel weiter fortgeschritten ist

Frage: Hildegard von Bingen hat zur Medizinforschung beigetragen. Angebliche "Hildegard-Medizin" findet man heute als Dutzendware in den Buchhandlungen. Kann man ihre Lehren heute einfach so übernehmen? Und berufen sich all die Buchautoren zu Recht auf Hildegard?

Keul: Die Medizin hat sich in unserem Jahrhundert mit Hildegard von Bingen auseinandergesetzt und kann heute nachvollziehen, aus welchen Gründen bestimmte Mittel, die sie beschrieben und verordnet hat, offensichtlich so gut gewirkt haben. Vieles hält den modernen Maßstäben stand. Daß die Erkenntnisse für marktwirtschaftliche Interessen genutzt werden und daß damit auch Mißbrauch betrieben wird, um Geld zu verdienen, steht auf einem anderen Blatt. Es ist jedoch ein Vorteil, daß Hildegards Schriften noch im Original erhalten sind. Wir können also genau nachvollziehen, was nun von Hildegard von Bingen stammt und was nicht

Frage: Kann man sagen, daß Hildegard-Medizin ein Allheilmittel ist?

Keul: In der heutigen Medizin gibt es ja sehr verschiedene Richtungen. Was ich bei Hildegard schätze, ist ihr Versuch, auf den ganzen Menschen einzugehen, auch die Psyche mit einzubeziehen. Das ist auch an der Art und Weise zu sehen, wie sie die Wirkung von Heilpflanzen beschreibt. Insofern: Ich würde es durchaus mal versuchen mit Hildegard-Medizin. Ob ihre Rezepte nun bei allen Krankheiten oder Beschwerden hilfreich oder genügend hilfreich sind, weiß ich nicht, aber auf ihre unterstützende Wirkung würde ich schon vertrauen. Im übrigen sind ihre Werke zur Heilung zum großen Teil eigenen Krankheiten entsprungen. Sie war keineswegs eine Frau, die vor Gesundheit gestrotzt hätte, sondern Zeit ihres Lebens immer wieder krank

Frage: Das Hildegard-Jubiläumsjahr könnte mancher zum Anlaß nehmen, einen Blick in ihre Schriften zu werfen, und möglicherweise auch zu versuchen, sie im Original zu lesen. Er könnte dabei eine herbe Enttäuschung erleben, denn die Texte sind nicht so ganz einfach zu verstehen. Welchen Zugang empfehlen sie?

Keul: Wir sollten uns immer vor Augen halten, daß seit ihrem Todestag mehr als 800 Jahre vergangen sind. Die gesamte Kultur und auch die Sprache hat sich verändert. Es ist wirklich recht schwierig zu verstehen, was Hildegard denn mit dem meint, was sie sagt, selbst wenn es ins Deutsche übersetzt ist. Sie hat eine sehr symbolische Sprache. Wenn wir Hildegard verstehen wollen, müssen wir ihre Symbole verstehen, zum Beispiel ihre Farbenlehre: Rot ist die Farbe der Liebe, des Blutes, der brennenden Sehnsucht, des Heiligen Geistes. Wer sich zunächst ein wenig über ihr Leben informiert, versteht manche Hintergründe besser. Danach ihre Texte zu lesen, ist schwierig, lohnt sich aber sehr

Frage: Was hat Sie persönlich bei der Hildegard-Lektüre besonders angesprochen?

Keul: Ein inspirierendes Wort, das sich bei Hildegard häufiger findet, ist die "Grünkraft". Das menschliche Leben ist ja oft sehr schwer, es weist Brüche auf, wir kommen mit bestimmten Situationen im Leben nicht zurecht, wissen nicht, wie es weitergehen kann. Hildegard sagt: Es gibt in jedem Augenblick des Lebens eine schöpferische Kraft, die von Gott kommt. Diese Kraft sei in allem Lebendigen zu finden, und sie nennt sie "Grünkraft". Dieses Bild gefällt mir, es ist gut zu verstehen gerade jetzt, wenn wir auf den Frühling warten, darauf, daß das Leben überall wieder ausbricht, die Bäume wieder grün werden. Hildegard macht uns Mut, uns in schwierigen Situationen darauf zu besinnen, worin eigentlich die schöpferische Kraft im Leben besteht. Sie macht uns Mut, indem sie sagt: "Wir können zu dieser Grünkraft finden, denn sie steckt in uns drin. Sie ist ein Geschenk Gottes. Wenn wir uns für sie öffnen, werden wir auch den Weg finden, der aus der Sackgasse herausführt". Interview: Stephan Radig

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 11 des 48. Jahrgangs (im Jahr 1998).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 15.03.1998

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