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Bistum Dresden-Meißen

Der soziale Brennpunkt hinter der glitzernden Fassade

Arbeit im Promenadenbahnhof

Leipzig (jak) - Insgesamt bleiben nur zehn Minuten, um einer Aussiedlerfamilie aus Kasachs-tan beim Umsteigen in den Zug nach Chemnitz zu helfen. Ingeborg Wamser und die Mitarbeiter der Ökumenischen Bahnhofsmission haben die Situation im Griff. Schnell ist der Kontakt zwischen Aussiedlern und Mitarbeitern hergestellt, die Koffer werden auf den Wagen gepackt und los gehts. Später wird noch der Kontakt zur Ökumenischen Bahnhofsmission Chemnitz aufgenommen, die sich dann weiter um die Familie kümmern wird

Situationen wie diese gehören zum Alltag der Bahnhofsmissionen in Deutschland. Und während die Stationen in den alten Bundesländern ohne Unterbrechung bis heute arbeiten konnten und somit zu festen und bekannten Einrichtungen geworden sind, gibt es die Bahnhofsmission im neuen Osten des Landes erst wieder seit wenigen Jahren. In den fünfziger Jahren verboten die kommunistischen Machthaber jede kirchliche Tätigkeit am Zug. In Leipzig nahm die Ökumenische Bahnhofsmission erst 1993 ihre Arbeit wieder auf. Die Zahlen des Jahres 1997 belegen, daß die angebotenen Hilfen zunehmend beansprucht werden. Über 18 000 Personen betreute das Team im vergangenen Jahr. Davon waren 1501 Kinder unter 14 Jahren, 1450 Jugendliche bis 18 Jahre, über 10 000 Männer und 5505 Frauen. Täglich werden 30 bis 70 Personen betreut. Die angeboten Dienste reichen von Hilfe am Zug und Geleit (ca. 8000 Einsätze), Aufenthalt in den Räumen der Bahnhofsmission (über 10 000 Personen), Beratung und Vermittlung gezielter sozialer Dienste (2375), vermittelte Übernachtungen (100), Verpflegung (8206) bis hin zum Bereitstellen von Kleidung (872) und der Nutzung der Duschen (658). Ingeborg Wamser gehört zu den Frauen der ersten Stunde in der Bahnhofsmission der Messestadt. Zuerst arbeitete sie auf ABM-Basis, dann im Rahmen der Aktion 55 und schließlich wurde sie fest eingestellt. Bis zum 1. März war Ingeborg Wamser die stellvertretende Leiterin der ökumenischen Einrichtung. Nun nach Vollendung des 60. Lebensjahres wird sie weiter ehrenamtlich in der Einrichtung an der Eilgutladestation tätig sein

Sie erzählt, daß ihr Lebenslauf mit dem Einstieg in die Bahnhofsmission eine ganz andere Richtung einschlug. Vorher hatte Ingeborg Wamser als Verwaltungsangestellte einen ganz normalen Tagesablauf. "Ich wußte schon am Morgen was der Tag bringt. Alle Aufgaben waren klar. Hier im Bahnhof ist jeder Tag anders, immer andere Konflikte, andere Probleme, die gelöst werden müssen", sagt sie selbst. Und auch wenn es oft an die inneres Substanz geht, Ingeborg Wamser möchte den Bahnhof und seine Menschen nicht mehr missen. Seien es die Jugendlichen, die sich in den Räumen der Bahnhofsmission treffen, um sich bei Rat und einer Tasse Kaffee aufzuwärmen, oder die Obdachlosen und nicht zu vergessen, die kranken, alten oder behinderten Reisenden, für die die Mitarbeiter der Bahnhofsmissionen das Reisen erst erträglich machen

Auf die Frage nach ihrem schönsten Erlebnis muß Ingeborg Wamser lange überlegen. Eigentlich sind es zuviele positive Begegnungen, die sie bei der Ökumenischen Bahnhofsmission Leipzig bisher hatte. Und doch, nach langem Überlegen erzählt Ingeborg Wamser von einer achtzigjährigen deutschstämmigen Aussiedlerin, die über Berlin und Leipzig nach Bayern reisen wollte. Es war ein Tag, an dem scheinbar alles schief ging. Zuerst stürzte die alte Dame in Berlin, einer der Passanten, die ihr dort behilflich waren, muß sie wohl um die Brieftasche erleichtert haben, und in Leipzig bekommt sie keinen Anschluß mehr. Damit war die Pannenserie noch nicht beendet: Nach der Übernachtung bringt sie eine Mitarbeiterin der Bahnhofsmission zum Zug. Dieser fährt mit den beiden los, die Mitarbeiterin ohne Papiere, Geld, Fahrschein. Ingeborg Wamser lächelt heute über das damals Erlebte, den Streß und die ungezählten Telefonate. Nach einigen Wochen bedankte sich die ältere Aussiedlerin für die Hilfe und zahlte das eigentlich geschenkte Reisegeld zurück

Menschliche Begegnungen, die für Ingeborg Wamser und all die anderen Mitarbeiter der Bahnhofsmission ihren Job am sozialen Brennpunkt irgendwo "reizvoll" machen. Und es ist der Umgang mit Menschen, der sie alle prägt. Dabei legen sie immer wieder auch Wert darauf, den christlichen Anspruch deutlich zu machen. Der den Alltag prägende Glaube soll in ihrer Arbeit spürbar werden

Das ist gerade im neugestalteten Leipziger Hauptbahnhof wichtig. In den Promenaden - zweigeschossig in den Querbahnsteig versenkt - bieten heute rund 120 Läden Waren aller Art an. Soziale Probleme sind kaum spürbar, scheinbar eine heile Welt. Daß dem nicht so ist, wissen Ingeborg Wamser und alle von der Bahnhofsmission. Doch Kritik allein hilft nicht weiter. Und während das Bahnmanagement mit den drei großen S - Service, Sicherheit, Sauberkeit - wirbt, möchte die Bahnhofsmission ein viertes "S" für soziales Handeln hinzufügen. Es werden die nächsten Jahre zeigen, wie sich dieses Anliegen im Großprojekt Promenaden-Hauptbahnhof verwirklichen läßt. Ein Weg, so Ingeborg Wamser, wird mit Sicherheit die Zusammenarbeit mit den Läden und Einkaufsketten sein. Es müsse um Akzeptanz geworben werden und wenn schließlich so etwas wie eine kleine Sozialpartnerschaft im Bahnhof wachse, dann ist viel gewonnen. Ein erster Schritt wird ein Faltblatt der Bahnhofsmission sein, daß am Info-Schalter der Bahn ausgelegt wird

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 11 des 48. Jahrgangs (im Jahr 1998).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 15.03.1998

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