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Aus der Region

Zur sozialen Lage in Ungarn

Bischöfe

In Ungarn vollziehen sich grundlegende gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Veränderungen. Diese werden von Krisen, die das Gesellschaftsleben erschüttern, begleitet. Ein bedeutender Teil der Gesellschaft muß diese Last gezwungenermaßen als Verlust, nicht selten als qualvolles Opfer erdulden. Die Opfer dieser Übergangszeit sind eine Großzahl von Menschen, die unter Krankheit, Einsamkeit, Existenzangst, Sorgen um das tägliche Brot, nicht selten unter Entrechtung, Obdachlosigkeit, Ausgestoßensein leidet.

Zu den größten Problemen in unserer Heimat zählt derzeit die zunehmende Armut. Immer mehr Menschen fehlt eine entsprechende Wohnung, Kleidung, Nahrung und die vielen anderen Voraussetzungen, die zu einem menschenwürdigen Dasein erforderlich sind. Der Verarmungsprozeß nimmt in erschreckendem Maße zu: Die Weltbank hat festgestellt, daß während der Anteil der Armen im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung 1989 noch bei 5 Prozent lag, diese Zahl sich bis 1993 verfünffacht hat. Nimmt man die Berechnungen des Statistischen Zentralamtes als Grundlage, so lebten in Ungarn in den 80#er Jahren eine Million, 1992 zwei Millionen und 1995 bereits nahezu 3,5 Millionen Menschen unter dem Existenzminimum.

...Zu einer besonders bedenklichen Krisensituation führt in unserer im Wandel begriffenen Gesellschaft der Umstand, daß die Umgestaltung des sozialen Versorgungssystems und der Sozialversicherung gleichzeitig mit dem wirtschaftlichen Rückgang, dem weitgehenden Schwund der zur Verteilung gelangenden Ressourcen erfolgt. Das soziale Schutznetz aus den Zeiten des Einparteienstaates hat seine Wirksamkeit verloren. Die den veränderten gesellschaftlich#wirtschaftlichen Verhältnissen entsprechende soziale Versorgung neuen Stils funktioniert indessen vorerst nur teilweise; in verschiedenen Bereichen ist sie überhaupt erst im Entstehen begriffen.

Ein besonders großes Problem stellt der Umstand dar, daß die soziale Versorgung der Langzeitarbeitslosen, der Fürsorgeempfänger und jener, die nicht einmal mehr Fürsorgezahlungen bekommen... auch heute noch lediglich bruchstückhaft gelöst ist.

Die Umgestaltung des Staatshaushaltes ist auch nach den Erfahrungen der reicheren westeuropäischen Länder unumgänglich. ... Die Auswirkungen der Verschärfungen machen sich indessen umgehend bemerkbar; die Lebensverhältnisse der Menschen werden schwieriger, während es nicht klar zu ersehen ist, was die geforderten Opfer bezweckt haben....

Eine unvermeidliche Begleiterscheinung der Modernisierung ist unter anderem der Verlust zahlreicher Arbeitsplätze beziehungsweise eine dahingehende Änderung des Arbeitsplatzes, daß # im Gegensatz zu früher # zumeist eine bessere Qualifikation verlangt wird, die von vielen gar nicht erbracht werden kann. Es kann indessen nicht akzeptiert werden, daß all dies nur als wirtschaftliche Frage betrachtet wird.

In die stärkste Abhängigkeitssituation sind die Kinder geraten. 1994 lebten 45 Prozent der Jugendlichen unter 19 Jahren in einem Haushalt, in welchem das Pro-Kopf#Einkommen unter dem Existenzminimum lag. Die Gefahr, in die Gruppe der Armen abzugleiten, ist mit der Zahl der Kinder, die erhalten werden müssen, stark im Steigen begriffen. Die zur Verarmung führenden Auswirkungen der Bereitschaft, Kinder zu akzeptieren, haben sich in den letzten Jahren durch die Verschlechterung der wirtschaftlichen und sozialen Lage, vielfach aber auch durch Maßnahmen seitens der Regierung, von denen insbesondere Familien mit Kindern betroffen sind, verschärft. Es kann nicht hingenommen werden, daß die Bereitschaft, mehrere Kinder zu haben, besonderer Heldenhaftigkeit bedürfe und zwangsweise zur Armut führen müsse. Der Realwert der Familienbeihilfe ist in den vergangenen Jahren um ein Beträchtliches gesunken, gleichzeitig wurden etliche Vergünstigungen für Kinder aufgehoben.

Eine der solidesten Grundlagen der Zukunft des Landes ist in jenen Familien zu sehen, die nicht nur bereit sind, Kinder in die Welt zu setzen, sondern sie auch großzuziehen: Ein gutes familiäres Umfeld ist nicht nur die Gewähr für eine glückliche Kindheit und somit das größte Geschenk, das man einem Kind zuteil werden lassen kann, sondern auch der wirksamste Hintergrund der Erziehung von Staatsbürgern zu nützlichen und wertvollen Mitgliedern der Gesellschaft.

Eine wesentliche Schlechterstellung hat in den letzten Jahren die Gruppe der älteren Menschen erfahren, die ihren Lebensunterhalt aus Renten und Pensionen bestreiten. Der Realwert der Pensionen ist in einem noch höheren Grad gesunken als die Wertminderung der Löhne und Gehälter ausmachte.... Neben der Last des Alters drückt die Pensionisten auch noch das Gefühl, allein gelassen und überflüssig zu sein, das Gefühl der Aussichtslosigkeit: Sie haben das Gefühl - und darin werden sie nicht selten von der öffentlichen Meinung und der Presse bestärkt - nur noch eine Belastung für die anderen zu sein. Für viele wird das Leben nicht nur zu einem bitteren Leben, es verkürzt sich auch noch, denn diese Menschen sind nicht in der Lage, für ihren Lebensunterhalt aufzukommen, sich finanziell zu versorgen. Die Zahl der Pensionisten liegt heute bereits bei nahezu drei Millionen, und diese Zahl wird sich in den kommenden Jahren sukzessiv erhöhen. Die Überalterung der Bevölkerung erhöht die Sorge, denn dieser Umstand bürdet der Gesellschaft immer höhere finanzielle Lasten auf.

Unsere Minderheitenpolitik kann auch im internationalen Vergleich durchaus bestehen; dennoch können wir nicht verschweigen, daß die Volksgruppe der Roma um ein Erhebliches geringere Chancen auf ein menschenwürdiges Leben hat als die übrigen Gruppen der Gesellschaft. Als Illustration möchten wir nur ein einziges Beispiel aus den Daten des Jahres 1995 herausgreifen: von der Nicht#Roma#Bevölkerung sind 10,6 Prozent der im aktiven Alter stehenden Bevölkerung arbeitslos, bei den Roma sind es 45,5 Prozent. Die Gesellschaft wird den Problemen der Minderheiten in Zukunft mehr Aufmerksamkeit widmen müssen. Heute messen wir der Anwesenheit der sich in unserem Lande aufhaltenden Flüchtlinge und Asylanten noch wenig Bedeutung zu; angesichts ihrer wachsenden Zahl werden wir uns diesem Problem indessen früher oder später stellen müssen.

In erschreckendem Maße steigt auch die Zahl der Obdachlosen und gleichzeitig damit der Handlungsbedarf. Derzeit leben in unserem Lande etwa 30#40 000 Menschen (1995) ohne entsprechendes Zuhause, wobei zu sagen ist, daß wir diesbezüglich nicht einmal über genaue Angaben verfügen.

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 12 des 48. Jahrgangs (im Jahr 1998).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 22.03.1998

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