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Bistum Erfurt

Sozialstaat am Ende?

Tagung

Heiligenstadt - "Ich halte es für den größten Skandal der Bundesrepublik Deutschland überhaupt, daß Kinder heute ein erhöhtes Armutsrisiko darstellen. Dies gilt um so mehr, als erwiesen ist: Weil zahlreiche Erwerbslose in Familien leben und von diesen finanziell getragen werden, kann die Hälfte aller notwendigen Aufwendungen für Sozialhilfe eingespart werden" - Aussagen des Frankfurter Finanzwissenschaftlers Diether Döring bei einer Tagung zum Thema "Gesellschaft und Verantwortung. Ist der Soziale Staat am Ende?" im Heiligenstädter Marcel-Callo-Haus. Doch nicht nur in puncto Familienförderung sind Veränderungen überfällig.

Damit die Bundesrepublik ein sozialer Staat bleibt, ist zum Beispiel auch die Umgestaltung des Steuer- und des gesetzlichen Sozialversicherungssystems sowie die Schaffung neuer Arbeitsplätze dringend erforderlich. Darin waren sich die Teilnehmer der Tagung einig, zu der die SPDnahe Friedrich-Ebert-Stiftung und das Katholische Forum in Thüringen am 20. und 21. März eingeladen hatten.

Die entscheidende Ursache für "die reale Krise des sozialen Systems heute" sieht SPD-Vize-Parteivorsitzender Wolfgang Thierse "in der Verknüpfung von Sozialabgaben und -leistungen mit der lebendigen Arbeit." Eine katastrophale Verknüpfung, wie auch Professor Diether Döring von der Akademie der Arbeit an der Universität Frankfurt (Main) bestätigte. Denn angesichts des ungeheueren Rationalisierungsschubs durch den Siegeszug der Computertechnik werden immer weniger Menschen die gesellschaftlich notwendige Arbeit leisten. "Folglich", so Thierse, "wird das heutige sogenannte Normalarbeitsverhältnis dramatisch an Bedeutung verlieren." Wenn aber immer weniger Menschen in versicherungsrelevanter Beschäftigung stehen, müsse ein auf Erwerbsarbeit basierendes soziales Sicherungssystem automatisch in die Knie gehen. Denn das Kranken-, Renten-, Arbeitslosenversicherungssystem lade seine gesamte Last auf die in Erwerbsarbeit stehenden Arbeitnehmer und ihre Arbeitgeber auf.

Hinzu komme: Die geringfügig Beschäftigten (520/620-Mark-Jobs), deren Zahl ständig wächst, werden im Gegensatz zur Praxis in anderen europä-ischen Ländern nicht versichert. Selbständige leisten keine und Beamte, Gut- und Spitzenverdiener teilweise keine oder im Verhältnis zu ihren Einkünften geringe Abgaben in die gesetzliche Sozialversicherung, wobei zwischen Renten-, Kranken-, Arbeitslosen- und Pflegeversicherung zu unterscheiden und die steuerliche Seite zu bedenken ist. Im Gegensatz dazu wird etwa in Holland jeder Bürger mit seinem 16. Geburtstag unabhängig von seiner Beschäftigung automatisch Mitglied im Sozialversicherungssystem.


Außerdem werden in Deutschland versicherungsfremde Leistungen wie zum Beispiel arbeitsmarktbedingte Frührenten, die eigentlich von allen Bürgern getragen werden müßten, über das Sozialsystem abgewickelt. Die Zahl der alten Menschen mit ihrem Anspruch auf Sozialleistungen nimmt stetig zu. Beständig wächst auch die Zahl der Singles, die stärker als andere auf einen Arbeitsplatz oder Sozialleistungen angewiesen sind, wie Professor Döring herausstellte. Faktoren, die das deutsche Sozialsystem enorm schröpfen.


Um den Sozialstaat zu stärken, schlägt der Finanzwissenschaftler neben der Herausnahme versicherungsfremder Leistungen vor allem die Ausweitung der Sozialversicherungspflicht vor. "Ich bin für eine schnelle Ausdehnung der Sozialversicherungspflicht auf alle Erwerbstätigen, also auch auf die geringfügig Verdienenden." Dadurch sei eine Beitragssenkung möglich, was die Lohnnebenkosten senken und sich positiv auf die dringend nötige Schaffung von Arbeitsplätzen auswirken könnte. Außerdem plädiert Döring für eine Mindestsicherung aller. Dies würde die Bereitschaft zur Aufnahme von Teilzeitarbeit erhöhen. Auch SPD-Vize Thierse möchte die Ungereimtheiten und Ungerechtigkeiten beseitigt sehen. "Wir brauchen eine schrittweise Entkoppelung der Verknüpfung der Leistungsfähigkeit des Sozialsystems mit lebendiger Arbeit und in der Folge stärkere steuerfinanzierte Ergänzungen." In Verbindung damit stehe eine an ökologische Kriterien gekoppelte Steuerreform. Diskutiert wurde auch die Frage einer Neubewertung ehrenamtlicher und Hausarbeit sowie die Frage, inwieweit Teilzeitbeschäftigung und kürzere Arbeitszeiten neue Perspektiven eröffnen können.


Wie Professor Döring sprach sich auch der Erfurter Sozialethiker Michael Schramm für eine spürbare Korrektur des deutschen Sozialsystems zugunsten der Familien aus: "Wer keine Kinder - ökonomisch ausgedrückt kein Humankapital - in die Gesellschaft einbringt, muß Geldkapital einbringen." Trotz aller auch berechtigten Diskussionen um eine Neubewertung von Arbeit sieht der Hochschullehrer am Philosophisch-Theologischen Studium Erfurt letztlich keine Alternative zur Erwerbsarbeit. "Nur die Erwerbsarbeit kann ein den kulturellen Gegebenheiten angemessenes Einkommen sichern", so Schramm. Deshalb gelte es, neben notwendigen anderweitigen Bemühungen alle erdenklichen Anstrengungen für mehr Erwerbsarbeitsplätze zu unternehmen. So sehr Überlegungen hinsichtlich einer Mindestsicherung aller etwa durch Bürgergeld notwendig und berechtigt seien, stellten sie keine wirkliche Alternative dar. Schramm: "Sozialpolitik kann insofern nur im Rahmen der Marktwirtschaft und nicht gegen den Markt erfolgreich sein."


Der frühere SPD-Vorsitzende und Minister a.D., Hans-Jochen Vogel, warnte davor, "den sozialen Sprengstoff, der in der hohen Arbeitslosigkeit steckt, zu unterschätzen". Vogel erinnerte an die Weimarer Republik und an Unruhen in Großbritannien unter der Thatcher-Regierung sowie an die Streiks in Frankreich. Zugleich äußerte sich Vogel "zutiefst empört" darüber, daß gegenwärtig "in Zeiten der Reichtumsexplosion seitens der Unternehmen hohe Arbeitslosenzahlen als Druckmittel eingesetzt werden, um Kosten zu senken".

Daß die Marktwirtschaft dringend einer Ergänzung bedarf, um sozial ausgewogen zu sein, daran erinnerte unter Bezug auf das Sozialwort der Kirchen auch Privatdozent Dr. Gerhard Kruip von der Katholischen Akademie für Jugendfragen, Odenthal. Kruip sieht hier eine zentrale Aufgabe der Kirchen im gesellschaftlichen Dialog: "Die Kirchen halten das Bewußtsein wach, daß es keinen Frieden in der Gesellschaft geben kann, wenn die Armen vom Wohlstand ausgeschlossen sind." Jeden einzelnen Christen fordert Kruip auf, sich intensiv mit der "Dramatik der sozialen Situation" auseinanderzusetzen und die eigene politische Verantwortung zu erkennen.



Eckhard Pohl

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 14 des 48. Jahrgangs (im Jahr 1998).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 05.04.1998

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