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Aus der Region

Wie kam es zu diesem Dokument?

Nachdenken über die Shoa (I)

Die römische Kommission für die religiösen Beziehungen mit dem Judentum hat kürzlich ein zehnseitiges Dokument zum Holocaust veröffentlicht, das ein unterschiedliches Echo hervorrief: Von katholischer Seite wurde es von vielen begrüßt: Endlich eine katholische Stellungnahme zur Ermordung der Millionen Juden zur Zeit des Zweiten Weltkriegs. Von jüdischer Seite hingegen kamen kritische, enttäuschte, mindestens zurückhaltende Stimmen. Worum geht es? Wie kam es zu diesem Dokument? In welchem Kontext steht es?

Am 26. Oktober 1965 verabschiedete das Zweite Vatikanische Konzil die Erklärung "Nostra aetate" mit dem Artikel 4, der heiß umkämpften sogenannten "Judenerklärung". Sie besteht nur aus zwei Textseiten, die aber inhaltsschwer sind und eine Bewegung auslösten nicht nur innerhalb der katholischen Kirche, sondern auch weit über ihre Grenzen hinaus. Im Anschluß an diese Judenerklärung folgten im Abstand von jeweils etwa 10 Jahren Weiterführungen dieser Erklärung, verantwortet und veröffentlicht von der Vatikanischen Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum: am 1. November 1975 "Richtlinien und Hinweise für die Durchführung der Konzilserklärung"; im Mai 1985 "Hinweise für eine richtige Darstellung von Juden und Judentum in der Predigt und in der Katechese". Im Jahr 1995 ließ die Kommission nichts verlauten. Es sprach sich aber herum, daß eine Veröffentlichung über die Vernichtung der Juden im Zweiten Weltkrieg vorbereitet würde. Es wären auf internationaler Ebene Zuarbeiten in Auftrag gegeben worden. Von daher wäre eine Verzögerung verständlich.

Wie kam es zu dem Thema dieses Dokuments? Die beinahe vollendete Vernichtung des europäischen Judentums war mindestens der äußere Anlaß der Konzilserklärung über die Juden gewesen. Aber in ihr und den folgenden Äußerungen war nur nebenbei und nur andeutungsweise von der Shoah selbst die Rede. Vor allem wurde auch nicht über die Bedeutung dieses katastrophalen Unrechts für die Christen und die Kirchen nachgedacht.

Die säkulare Organisation der UNO hingegen hatte bereits 1947 eine Konsequenz aus der massenhaften Vernichtung der Juden gezogen: Sie hatte in einer Resolution beschlossen, den in der ganzen Welt zerstreuten Juden die Möglichkeit zu geben, in Palästina einen eigenen Judenstaat zu gründen. Die damalige Sowjetunion hat als erster Staat diese UNO#Resolution unterschrieben. Die meisten anderen Völker folgten. Die katholische Christenheit jedoch brauchte weitaus länger, um auf das Geschehen zu reagieren: Erst im Jahr 1994 wurde der Staat Israel vom Vatikanstaat diplomatisch anerkannt. Eine inhaltliche Stellungnahme der katholischen Kirche zur Judenvernichtung war überfällig. Deutliche Worte fand Papst Johannes Paul II. bereits in der Predigt bei der Messe im Vernichtungslager Auschwitz#Birkenau am 7. Juni 1979. Am 30. September 1997 wurde in Frankreich von Bischöfen ein Schuldbekenntnis der Kirche Frankreichs verlesen: Sie hätte angesichts der Judenvernichtung in der Gewissensbildung der Christen und der gebotenen Hilfestellung für die Juden versagt.

Dr. Michael Ulrich, Dresden

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 16 des 48. Jahrgangs (im Jahr 1998).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 19.04.1998

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