Ein Schritt in die richtige Richtung
Nachdenken über die Shoa (2)
Was sagt nun das Dokument Wir erinnern: Nachdenken über die Shoah";, veröffentlicht von der päpstlichen Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum, zu diesem heiklen Thema?
Zunächst das Positive: Das römische Dokument gebraucht für die Judenvernichtung nicht den oft zu hörenden Ausdruck Holocaust (Ganzopfer, Brandopfer), denn wer hat wem bei der Judenvernichtung ein Opfer darbringen wollen? Die Henker, die Opfer? Es verwendet statt dessen den jüdischen Ausdruck Shoah, der soviel wie Katastrophe, Untergang bedeutet. Es stellt fest, daß man sich nicht darauf beschränken darf, den Nationalsozialisten die Schuld an der Shoah zuzuschreiben. Man müsse auch die jahrhundertelange Geschichte der Haltung der Christen und Kirchen zu den Juden mitbedenken
Das römische Dokument spricht von der 2000jährigen Geschichte des Zusammenlebens von Christen mit Juden in einer negativen Bilanz. Es zählt Beispiele aus der ganzen Zeit der Kirchengeschichte auf, in der aus Judenverachtung Unterdrückung und Tötung von Juden wurde. In Krisenzeiten wurde die jüdische Minderheit oft als Sündenbock angenommen, und so wurde sie zum Opfer von Gewalt, Plünderungen bis hin zu Massakern
Die Grenze dieses Dokuments scheint darin zu liegen, daß es keine antijudaistischen Äußerungen im Neuen Testament für möglich hält, nur spätere antijudaistische Fehldeutungen der christlichen Quellenschriften; daß es sich ängstlich bemüht, nur sein Bedauern darüber auszudrücken, daß Söhne und Töchter der Kirche versagt hätten, nie aber zugibt, daß auch die Kirche insgesamt an Haupt und Gliedern versagt habe, daß auch die ganze Kirche schuldig geworden sei. Einer Kirche, die lehrt, daß alle Menschen Sünder sind, dürfte das doch eigentlich nicht so schwer fallen
Wenn man das römische Dokument mit dem Wort der französischen Bischöfe vergleicht, ist nicht zu übersehen, daß es noch manche Wünsche offen läßt. So erwähnt es zwar, daß Papst Pius XII. durch seine stillen Bemühungen viele Juden retten konnte, spricht aber nicht davon, daß ein offenes Anklagen der Judenmorde in den Vernichtungslagern ein mutiges prophetisches Bekenntnis gewesen wäre
Das Dokument der Vatikanischen Kommission hat nicht den Titel Kirche und Shoah"; gewählt, sondern Wir erinnern: Nachdenken über die Shoah";. Das bringt zum Ausdruck, daß wir es nicht als letztes Wort in dieser Angelegenheit verstehen müssen, sondern als ein Wort auf dem Weg
Sicherlich dürfte das auch damit zusammenhängen, daß eine Kommission, die zu einer unterschiedlich denkenden und empfindenden Christenheit sprechen soll, die über alle Kontinente der Welt verteilt ist, verständlicherweise noch meint, bedeutsamer formulieren zu müssen als eine nationale Bischofskonferenz
Im Vergleich zu den früheren Äußerungen Roms zu diesem Thema ist trotzdem zu sagen, ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung ist getan, wenn auch hoffentlich noch nicht der letzte
Michael Ulrich, Dresden
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 26.04.1998