Nöte der Familien wahrnehmen
Gastbeitrag
Stellen Sie sich vor: Ein Maurer, dessen Firma in Terminschwierigkeiten kommt, weigert sich, Überstunden zu leisten. Eine solche Weigerung käme bei der derzeitigen Lage am Arbeitsmarkt wohl schon fast einer Kündigung gleich. Denn wenn ein Unternehmen sich schon um "Arbeit und Brot" für die Beschäftigten kümmert, dürfen auch Engagement und Einsatzbereitschaft gefordert werden. Stellen Sie sich vor: Eine Verkäuferin ist Mutter von zwei Kindern. Eines der Kinder wird krank, so daß sie nicht pünktlich zur Arbeit erscheint. Ihre Vorgesetzten zeigen zwar Verständnis. Grundsätzlich darf sich das Zuspätkommen aber nicht wiederholen - schließlich können solche Probleme nicht zum Schaden und auf Kosten der Firma ausgestanden werden.
Diese beiden "Vorstellungen" sagen etwas über die Realität von Familien in unserer Gesellschaft aus. Wer fragt den Maurer, ob seine Frau und seine Kinder vielleicht auf ihn warten. Das Problem der Firma wird automatisch zur He-rausforderung an den Mitarbeiter. Umgekehrt werden im Berufsleben die Schwierigkeiten bei der Bewältigung des Familienalltags kaum wahrgenommen. Die Krankheit des Kindes bleibt Privatsache der Frau.
Auf der anderen Seite stellen Politiker, Lehrer und Psychologen in regelmäßigen Abständen fest, daß in unserer Gesellschaft die sozialen Grundfähigkeiten, wie gegenseitige Annahme, Toleranz, Verantwortung füreinander und die Fähigkeit, feste zwischenmenschliche Beziehungen zu gestalten, offensichtlich immer mehr abnehmen. Es fehlt gerade die soziale Kompetenz, die im Miteinander von Ehe und Familie gelernt, geübt, schlichtweg gelebt wird. Genauer betrachtet, kommt Ehe und Familie also doch eine wesentliche gesellschaftliche Bedeutung zu.
Die Woche für das Leben vom 10. bis 16. Mai steht unter dem Motto "Worauf du dich verlassen kannst. Miteinander leben in Ehe und Familie". Sie kann eine Chance sein, die Bedeutung von Ehe und Familie für die gesamte Gesellschaft in Erinnerung zu rufen. Wir Christen sollen daran erinnern, daß auch heute noch in den meisten Familien echte Mitmenschlichkeit und Verantwortung füreinander gelebt und erfahren wird - ohne die Schwachstellen und Probleme zu verschweigen. Wir können versuchen, Eheleute und Eltern mit deren Sorgen und Nöten besser wahrzunehmen, und ihnen individuelle Hilfen anbieten. Wir sollen familienfreundliche Lebensbedingungen einfordern und gleichzeitig in unserem Umfeld dazu beitragen. Wir können darüber nachdenken, was es Eltern heute in einem hektischen und auf Durchsetzungsvermögen und Erfolg ausgerichteten gesellschaftlichen Klima schwer macht, ihren Kindern Werte wie Toleranz, Geduld oder Vergebungsbereitschaft zu vermitteln. Wir können auch darauf aufmerksam machen, wie Familien im Rahmen unseres Steuer- und Rentensystems benachteiligt werden. Die Liste ließe sich fortführen.
Die Woche für das Leben kann ein Anstoß für die verschiedensten Aktionen in unseren Gemeinden sein. Es wäre schade, wenn sie verstreicht, ohne daß der Maurer oder die Verkäuferin nicht wenigstens ein Zeichen unserer Anerkennung und Solidarität erfahren...
Kurt Herzberg, Landesgeschäftsführer des Familienbundes der Deutschen Katholiken, Erfurt
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 03.05.1998