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Bistum Magdeburg

Behindert, aber nicht ausgegrenzt

Neues Caritashaus


Schelkau - Die Fliege, die eben noch durch die Luft schwirrte, sitzt jetzt auf dem Arm von Peter Grieß. Krabbelt auf seinem Hemd in Richtung Hals. Er kann sie nicht wegscheuchen, auch wenn sie ihn stört. Peter Grieß ist schwer behindert. Der 32jährige liegt flach auf den Polstern seines Rollstuhls. Aufrecht sitzen kann er nicht. Das einzige, was er aus eigener Kraft bewegen kann, sind seine Augen und die Zunge. Brigitte Mc Manama kommt ihm zu Hilfe. Mit einer Handbewegung vertreibt sie das lästige Insekt. "Wir versuchen alles, um die Wünsche unserer Bewohner zu erfüllen", erzählt die Leiterin der Caritaswohnstätte für Menschen mit geistigen und mehrfachen Behinderungen in Schelkau, einem kleinen Ort in der Nähe von Weißenfels, die Mitte April eingeweiht wurde

Von Peter Grieß weiß sie, daß es sein größter Wunsch ist, einmal bei einem Konzert der Rolling Stones dabei zu sein. "Wir haben schon drei Karten für das Open-Air-Konzert in Leipzig gekauft", erzählt sie. Eigentlich der Garantieschein dabei sein zu können. Für Peter Grieß ist es jedoch nicht sicher, ob er jemals die Musik live hören wird, die auf seine zahlreichen CDs gebrannt ist. Denn "die Veranstalter des Konzertes weigern sich bisher, eine extra Abschirmung für Behinderte anzubieten". Peter Grieß kann jedoch nicht mehrere Stunden vorher da sein und dem Konzertgedrängel standhalten

"Ich wäre sehr traurig, wenn es nicht klappen würde. Musik ist meine Leidenschaft", erzählt er. Um diese Sätze zu sagen, muß er eine regelrechte Zungenakrobatik vollführen. Es ist schwer, ihn zu verstehen, aber nicht unmöglich. Regina, seine Betreuerin, kann das besser als Außenstehende. Als Regina erwähnt wird, glänzen Peters Augen und im Gegensatz zu manchen nicht behinderten Menschen, die nur mit dem Mund zu lächeln scheinen, strahlt sein ganzes Gesicht. Hier im Caritasheim "Julius von Pflug" fühlt er sich wohl. "Vorher lebte Peter über zehn Jahre lang in einem Altenheim, wo sich keiner richtig um ihm gekümmert hat", erzählt Mc Manama. Peters Gesicht verzieht sich. Es ist offensichtlich, daß er sich nicht gern daran erinnert. Hier in der Wohnstätte sind mehrere der momentan 15 Bewohner ehemals sogenannte "Fehlplazierte" in anderen Einrichtungen. Sie kommen aus psychatrischen Krankenhäusern oder Altenheimen, in denen sie auf Dauer verkümmert wären. "Wir versuchen, unsere Bewohnern so normal wie möglich und so behindertengerecht wie nötig leben zu lassen. Genauer gesagt: Jeder Bewohner bekommt individuelle Hilfe, die sich auf das Notwendige beschränkt. Das bedeutet anleiten, animieren, begleiten und damit Interesse wecken", so Mc Manama über das Konzept.

Die Idee zu der Wohnstätte wurde 1993 geboren. Eine Großeinrichtung für bislang "Fehlplazierte" sollte gebaut und damit gleichzeitig eine strukturschwache Region gefördert werden. Nach knapp zwei Jahren Bauzeit konnte das Heim Ende 1997 mit insgesamt 98 Plätzen fertiggestellt werden. Und der Region wurde mit der Schaffung von Arbeitsplätzen geholfen. Mc Manama: "Zur Zeit haben wir 23 Mitarbeiter, davon kommen sieben aus dem Dorf." Peters Betreuerin ist eine von ihnen. "Was Besseres konnte mir nicht passieren. Regina sieht jede Kleinigkeit", erzählt Peter über sie. Er strahlt. "Sie haben sich wahnsinnig schnell aneinander gewöhnt", erklärt Mc Manama. Peter schnalzt mit der Zunge. Das tut er immer, wenn er zustimmt

Voll belegt sind die vier Wohnhäuser "Regenbogen", "Wind", "Wolke" und "Sonne" noch nicht. Ende des Jahres, so hoffen die Mitarbeiter, wird das Heim zu 60 Prozent ausgelastet sein. "Ich bin überzeugt, daß wir dieses Ziel überschreiten werden", erklärt die Leiterin der Wohn- und Förderstätte selbstbewußt. Ihre Vorstellungen erklärt sie deutlich: "Wir haben uns vorgenommen, unsere Bewohner in das Dorf zu integrieren. Der erste Schritt dahin sind unsere Mitarbeiter, die aus Schelkau kommen."

Pläne hat sie schon zahlreiche, um die Dorfbewohner mit den Behinderten vertraut zu machen: "Wir werden bald einen Spielplatz und eine Weide mit Pferden haben. Diese Angebote können auch die Kinder aus dem Dorf mitnutzen." Und wenn die Behinderten spazieren oder einkaufen gehen, sollen sie keinesfalls in großen Gruppen auftreten. "Am Besten allein mit der Betreuerin. Eine große Gruppe ist das verkehrteste, was man tun kann. Die Leute rennen weg und unternehmen erst gar nicht den Versuch, sich mit ihnen zu unterhalten."

Auch Peter Grieß versucht die Gesellschaft mit seiner Behinderung zu konfrontieren. Seit über zehn Jahren gehört er einer Gruppe in der katholischen Gemeinde in Weißenfels an. Zu den "Rollerlatschern" gehören behinderte und nichtbehinderte Menschen. "Sie sind zusammen auf die Straße, in Restaurants oder zu Veranstaltungen gegangen, um die Leute bewußt darauf aufmerksam zu machen: Es gibt behinderte Menschen unter euch", erklärt Mc Manama. Diese Protestgruppe, die sich zu DDR-Zeiten gründete, besteht bis heute. Peter schnalzt mit der Zunge. "Wir treffen uns einmal im Monat", erzählt er. So lange die Wohnstätte noch nicht voll belegt ist, wollen die Rollerlatscher noch ein Treffen bei Peter zu Hause machen. Doch erst einmal ist er zu einer Taufe eingeladen. Nächstes Wochenende wird die Tochter von Peters Freunden getauft. "Man sieht richtig, daß Sie sich freuen", sagt die Heimleiterin zu Peter Grieß. Wieder schnalzt er mit der Zunge.


Katharina Funke

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 19 des 48. Jahrgangs (im Jahr 1998).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 10.05.1998

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