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Aus der Region

Wenn Gläubiger alle Träume platzen lassen

Überschuldung

Edda Grund* war voller Zuversicht, als sie kurz nach der Wende Inhaberin eines Lebensmittelgeschäftes wurde: In der DDR hatte sie in der gleichen Einrichtung bereits Erfahrungen als Verkaufsstellenleiterin gesammelt. Sie kannte die Kunden, war offen für neue Erfordernisse in der Branche. Was damals mit viel Elan begann, endete im wirtschaftlichen Ruin. Edda Grund hatte nicht damit gerechnet, das in der Nähe gleich drei Großmärkte öffnen würden. Mit ihrem kleinen Geschäft ging es fortan stetig bergab. Schließlich stellte sie einen Konkursantrag. Mangels Masse wurde er abgelehnt. Was blieb, waren ihre Privatschulden. Sie hatte ihr Grundstück als Sicherheit gegeben für den Laden, ihre spärlichen Ersparnisse hatte sie ebenfalls in das Geschäft gesteckt

Bei der Caritas-Schuldnerberatung des Landkreises Wittenberg fand sie Unterstützung. Sozialarbeiter Michael Harmuth begann 1992 mit diesem Beratungsdienst. Während in den Anfangsjahren vor allem Menschen seinen Rat suchten, die schon zu DDR-Zeiten durch soziale und psychische Probleme aufgefallen waren, kommen in den letzten Jahren zunehmend Klienten wie Edda Grund. "Überschuldung wird zunehmend ein Thema der Mittelschicht", sagt Michael Harmuth. Er berät eine Reihe von gescheiterten Existenzgründern und gut ausgebildeten Facharbeitern, die ihre Arbeitsstelle verloren haben

Die Ratsuchenden nutzen die kostenlose Beratung freiwillig. Die Überschuldung ist für viele mit einer einschneidenden Lebenskrise verbunden. Sie fühlen sich abgestempelt und abgeschnitten vom normalen Leben, wenn der Gerichtsvollzieher zu Besuch kommt, wenn beim Arbeitgeber der Lohn gepfändet wird, die Wohnung gekündigt wird, farbige Briefe vom Gericht zugestellt werden, die Bank Reglementierungen auferlegt

Kinder leiden in besonderem Maße unter den Schulden: Ihre Eltern sind nicht mehr unbeschwert, das Geld für Lebensmittel, Fahrkarten oder eine Geburtstagsfeier fehlt. Umgekehrt sind es oftmals gerade die Kinder, die ihre verschuldeten Eltern massiv unter Druck setzen, weil sie nicht auf teure Markenkleidung oder auf einen bestimmten Standard einer Jugendweihe-Feier verzichten wollen. "So will ich nicht weiterleben", sagt mancher Betroffene, wenn er mit Michael Harmuth oder einer seiner drei Kolleginnen ins Gespräch kommt

In den Beratungsgesprächen geht es nicht nur um konkrete Schritte zur Existenzsicherung, um den Schutz der Schuldner vor unberechtigten Gläubigerforderungen und um mögliche Wege, die Schulden zurückzuzahlen. Vielfach ist die Schuldnerberatung auch eine umfassende Lebensberatung. Die bedrängenden Erfahrungen der Überschuldung führen manchen dazu, über die eigenen Stärken und Schwächen nachzudenken, die ihn so tief in die Krise geführt haben, über Familienkonflikte und über Werte, die in der Gesellschaft und in seinem Leben eine Rolle spielen. Nicht selten wird dabei bewußt, daß Werte auf einer nicht-materiellen Ebene völlig fehlen. Mitunter bringen die Ratsuchenden in diesem Zusammenhang auch religiöse Fragen ins Gespräch

Der große Druck der Schulden kann eine Chance sein zum Umdenken und zur Veränderung, hat Michael Harmuth bei einigen Klienten erlebt. Wenn dieser Druck bei sorgloser veranlagten Menschen fehlt, reichen in der Regel die Kräfte für einen Wandlungsprozeß nicht aus

Manchmal ist es mit einem kurzen Gespräch getan, häufig begleitet der Caritas-Berater die Schuldner ein bis zwei Jahre lang. Zu Beginn versucht er gemeinsam mit ihnen herauszufinden, wo die eigentlichen Ursachen liegen für die Überschuldung

Immer wieder spielt zum Beispiel planloses Verhalten eine Rolle, wenn der Schuldenberg ins Unüberschaubare wächst. Die Betroffenen fragen sich nicht mehr, ob sie das neue Auto oder die Musikanlage sofort brauchen oder ob es besser wäre zu sparen. Gerade einfachere Menschen können der Werbung schwer standhalten, die von allen Seiten auf sie einstürmt und die ihnen suggeriert, nur durch ein bestimmtes Produkt "Jemand" zu sein. Michael Harmuth bietet Hilfe an beim Aufstellen eines Haushaltsplanes oder beim Ordnen der Rechnungen, Mahnungen und Kontoauszüge

Die Auslöser für die Zahlungsunfähigkeit sind so unterschiedlich wie die Klienten selbst: Oft ist es der Verlust der Arbeitsstelle. Einer Frau wurde die Bürgschaft zum Verhängnis, die sie vor Jahren für ihren ehemaligen Ehemann geleistet hatte. Alkohol- oder Spielsucht können ebenfalls den wirtschaftlichen Ruin auslösen. Bei Geschäftsleuten spielen auch anwachsende Außenstände eine Rolle. Edda Grund hat den Großteil ihrer Schulden bei Zulieferern, die selber finanziell am Abgrund stehen

Im Landkreis Wittenberg hat die Caritas im vergangenen Jahr 249 Schuldner beraten. Nur bei wenigen lagen die Schulden über 100 000 Mark. Noch höhere Summen, um die es bei Gewerbetreibenden und Baufinanzierungen oft geht, übersteigen in der Regel die technischen Möglichkeiten der Caritas. Die Betroffenen werden dann an einen Verein für Kreditgeschädigte verwiesen, der allerdings gebührenpflichtig arbeitet

Die meisten Klienten der Caritas haben zwischen 5 000 und 10 000 Mark Schulden - eine Summe, die einem gutverdienenden Arbeitnehmer gering erscheinen mag, für einen Sozialhilfeempfänger aber kaum zu bewältigen ist. Eine Gesamtregulierung der Schulden ist daher nur in wenigen Fällen möglich, fast immer müssen die Betroffenen mit einem Teil der Schulden weiterleben

"Oftmals könnten wir besser helfen, wenn die Betroffenen bereits kämen, sobald sich das Problem anbahnt", sagt Michael Harmuth. Tatsächlich kommen die Klienten meist erst, wenn sie eine Pfändungs- oder Räumungsklage in den Händen halten. Dann bleibt nur noch wenig Zeit, fristgerecht Einspruch einzulegen und mit den Gläubigern zu verhandeln

Verstärkte vorbeugende Arbeit, zum Beispiel Öffentlichkeitsarbeit zum Thema "sinnvoller Umgang mit Geld", hält Michael Harmuth für wichtig. Derzeit fehle den Caritas-Mitarbeitern dafür allerdings Zeit und Geld. Ein zusätzliches Aufgabenfeld für die Schuldnerberatungsstellen erwartet sich der Caritas-Sozialarbeiter vom neuen Insolvenzrecht, das 1999 in Kraft treten soll. Nach diesem Recht sollen verschuldete Privatpersonen die Möglichkeit erhalten, unter bestimmten Bedingungen nach einer mehrjährigen Frist von ihren restlichen Schulden befreit zu werden. Wer eine solche Restschuldbefreiung beantragen will, muß zunächst Fachleute zu Rate ziehen, zum Beispiel eine Schuldnerberatungseinrichtung. Michael Harmuth begrüßt das neue Gesetz. Menschen wie Edda Grund, die ihr wirtschaftliches Scheitern nicht verhindern konnten, hätten dann endlich die Chance zu einem Neuanfang.
Dorothee Wanzek

* Name von der Redaktion geändert

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 20 des 48. Jahrgangs (im Jahr 1998).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 17.05.1998

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