Familien wollen Ergebnisse sehen
Woche für das Leben
Dresden (jak) - "Sachsen braucht dringend ein Programm für die Jugend", diese Forderung stellte Bischof Joachim Reinelt während einer Podiumsveranstaltung zum Auftakt der diesjährigen "Woche für das Leben" in Dresden. Seiner Meinung nach müsse jetzt die sächsische Staatsregierung mit allen gesellschaftlichen Kräften zu diesem Thema ins Gespräch kommen. Zu viele junge Menschen hätten heute keinerlei Orientierung mehr. "Ich befürchte zwar im Moment noch keine solchen Wahlergebnisse wie in Sachsen-Anhalt, aber in einem Jahr kann auch hier die Situation ganz anders aussehen", betonte der Bischof. Daher müsse jetzt dringend gehandelt werden. An dieser Stelle kritisierte der Bischof, daß nach der Wende der Staat beispielsweise die Kirche fragte, ob sie sich in der offenen Jugendarbeit engagieren kann, jetzt aber immer häufiger bei der finanziellen Unterstützung der bestehenden Einrichtungen gespart werde. Dresden-Meißen sei jedoch ein kleines und keineswegs reiches Bistum und die Finanz-Grenzen seien auch erreicht
Etwas differenzierter sah Prof. Karl Lenz von der Technischen Universität Dresden das eventuelle Wahlverhalten der jungen Menschen im Freistaat. Er sagte: "Schauen wir nicht nur nach Sachsen-Anhalt, ich habe die Befürchtung, daß diese hohen Ergebnisse für rechte Extremisten schon jetzt auch in Sachsen Realität werden können."
Lenz informierte darüber, daß die NPD beispielsweise ihre Aktivitäten in den vergangenen Jahren mit zunehmender Tendenz nach Sachsen verlagere. Zudem seien Kinder und Jugendliche in einer großen Orientierungskrise. Eine Ursache sah Lenz darin, daß im Zuge der gesellschaftlichen Veränderungen - beispielsweise durch die Arbeitslosigkeit der Eltern - oft die Erziehung der Kinder auf der Strecke blieb, weil die Eltern nur noch mit sich zu tun hatten und oft selbst nicht mehr weiter wußten
Jetzt komme es darauf an, den Kindern und Jugendlichen erneut Strukturen der Geborgenheit und des Angenommensein zu geben. Sei es in der Familie oder in der Gesellschaft. Ein erster Schritt - darin waren sich Referenten und Gäste einig - ist aber die Bereitschaft der Gesellschaft, auf die Jugendlichen zuzugehen
Der Aktionstag der evangelischen und der katholischen Kirche zur "Woche für das Leben" fand in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Hygienemuseum statt. Leider blieb die Beteiligung in diesem Jahr weit unter den Erwartungen zurück. Der erste warme Sonntag und der Dixielandumzug ließen aber noch weniger Resonanz befürchten
Kritische Worte fand Christine Opitz vom Verein Katholische Offene Jugendarbeit (KOJA). "Es ist schade, daß die Besucher erst im Museumsfoyer erfahren, was hier für eine Veranstaltung läuft." Ein Hinweis hätte zumindest vor dem Museum und an den beiden Haltesstellen am Großen Garten angebracht werden müssen. KOJA gehörte zu den Vereinen, die den Tag nutzen wollten, um ihre Arbeit vorzustellen. "Es ist eine gute Möglichkeit, unsere Arbeit in einem offenen Rahmen zu präsentieren", betonte Christiane Opitz. Zudem wird Familie meist als etwas sehr Stabiles dargestellt. KOJA wollte aber aus den eigenen Erfahrungen darüber berichten, daß Familie auch Gewalt oder Nichtannahme der Kinder sein kann
Den Tag im Hygienemuseum nutzte auch Ursula Rost, Referentin für Kinderseelsorge im Bistum Dresden-Meißen. Unter dem Motto "Feste feiern" konnten sich die jüngsten Besucher über den christlichen Jahreskreis informieren, basteln oder gemeinsam tanzen. Dazu luden Mitglieder des christlichen Tanz- und Pantomimeensembles Tikwa ein
Mitorganisator des Aktionstages war Dr. Johannes Hintzen von der Abteilung Pastoral, der sich sichtlich enttäuscht über die mangelnde Resonanz zeigte. An der Werbung allein kann es jedoch nicht gelegen haben, Informationsblätter sind an alle Gemeinden gegangen. Da aber Kirche als Veranstalter nicht die Möglichkeiten eines Wirtschaftsunternehmes habe, seien die Christen und Seelsorger vor Ort auch gefordert, das Anliegen weiterzutragen, betont Dr. Hintzen. Abschließend zog er das Fazit: "Und irgendwie lockte das Thema keinen Hund hinterm Ofen hervor. Ich meine, Familien sind es irgendwo auch leid, daß sie ständig nur Sachthemen sind. Sie wollen spüren, daß etwas für sie getan wird."
Ein Punkt, der im Podium ebenfalls zur Sprache kam. Es wurde deutlich, daß Familie zu den Themen gehört, die ganz hinten rangieren. Noch einmal Dr. Johannes Hintzen: "Leider gibt es heute kaum ein Land in Europa, wo jemand Punkte sammeln kann, wenn er sich für Familien und ihre Rechte engagiert. Und der Vertreter des Katholischen Familienbundes Christoph Kilian meinte, daß auch die Kirchen noch nicht in vollem Maße zu der dringend gebrauchten Lobby für Familien geworden sind, wenn sie auch auf einem guten Weg dahin seien. Kilian betonte: "Sie sollten die Politiker sehr viel stärker dazu anhalten, mehr für die Familien zu tun." Umso wichtiger waren die Meinungen der Vertreter beider Kirchen im Rahmen des Aktionstages. Bischof Joachim Reinelt: "Das erste, was Kirche beitragen kann, ist die Höchstbewertung von Familie. Es ist ein Urmodell der Menschheit. Einen Ausverkauf an dieser Stelle können wir nicht verantworten." Der Bischof versprach, daß die Kirche die Familien nicht im Stich lassen wird. "Familie zuerst, dann manches andere ...", betonte er
Oberlandeskirchenrat Harald Bretschneider hob die Verbindlichkeit einer Familie hervor. Sie sei zwar oft nicht das Paradies, jedoch etwas unwahrscheinlich Gutes. "Dieses Modell möchten wir bezeugen und anpreisen", sagte Bretschneider weiter
Von Seiten des Publikums wurde unter anderem eine bessere und gerechtere Verteilung der gesellschaftlichen Güter in der Bundesrepublik Deutschland angeregt. Ein Mitarbeiter einer evangelischen offenen Jugendeinrichtung aus Riesa konnte aus seiner Arbeit berichten, daß viele Jugendliche Sehnsucht nach familiären Strukturen haben, dabei bräuchten sie jedoch Hilfen. Er wünschte sich, daß die Kirchen viel mehr auf die benachteiligten jungen Leute zugehen sollten
Zudem sei es an Zeit für eine wärmere Gesellschaft, die wieder fähig werde, sich selbst zu helfen. Er brachte aber auch seine Ratlosigkeit darüber zum Ausdruck, daß er oft selbst nicht weiß, was er den jungen Leuten für deren Zukunft raten soll
Im nächsten Jahr wird es erneut einen Aktionstag beider großen Kirchen in Dresden zur "Woche für das Leben" geben. Sie steht dann ganz im Zeichen der Bewahrung der Schöpfung. Die jetzt gemachten Erfahrungen werden in den Vorbereitungen genau berücksichtigt werden, sagte Organisator Dr. Johannes Hintzen. Denn auch dieses Thema sei eher inzwischen eher ein Schlagwort geworden und es müsse daher genau überlegt werden, wie es beim Aktionstag umgesetzt werden kann. Soll er doch nicht nur die Christen ansprechen, sondern ein Tag für alle interessierten Menschen sein.
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 17.05.1998