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Aus der Region

Ich trage nur das Heimweh...

Zum 70. Geburtstag der Dichterin Anise Koltz

Die luxemburgische Dichterin Anise Koltz ist in Deutschland nur wenig bekannt geworden, während sie in Frankreich auf einer Ebene mit Marie Luise Kaschnitz, Ingeborg Bachmann und Paul Celan gesehen wird. Der Wertschätzung in Frankreich mag dienen, daß sie neben deutsch und letzeburgisch auch französisch schreibt. Vielleicht hat diese alltägliche Dreisprachigkeit die Sensibilität für Probleme der Sprache und der Verständigung besonders geschärft. Anise Koltz wird nicht müde, auf die Verantwortung des Sprechers und Schreibers hinzuweisen, weil im Menschen eine Sehnsucht nach dem verläßlichen Wort lebt.

"Käme doch jemand / mit Worten / rund und abgewogen / wie Brotlaibe // er könnte MORGEN sagen / und ABEND / ohne zu lügen". Von sich selbst bekennt sie: "Ich bin ein Bote / ohne Botschaft / ein Bänkelsänger / ohne Lied // ich trage nur das Heimweh / von Stadt zu Stadt / und meine Kunde / habe ich vergessen". Worin besteht diese Kunde? Zuerst einmal darin, daß die Liebe den Menschen erschafft. "Ein Körper wäre ich / wenn du mich berührtest", heißt es und: "auch du bist niemand / wenn du nicht kommst". Weil es bei der Liebe um Tod und Leben geht, sind die Liebesgedichte so leidenschaftlich, so voller Sehnsucht und Verlangen.

Große Bedeutung hat das Bild des von den Vögeln aufgesuchten oder gemiedenen Baumes. Selbstbewußt heißt es einerseits: "Schlagt mir die Äste ab / und sägt mich in Stücke / die Vögel singen weiter / in meinen Wurzeln". Das bedeutet, das Singen, die Kunst, die Lust am Leben sind nicht zu töten. Daneben gibt es auch die verzagte Stimme: "Das Schwalbennest / in meinem Mund / steht leer // kein Vogel mehr / der in der Flügelsprache / zu mir spricht". Vögel sind die "unbesitzbaren Freunde" und wie alles wirklich Freie und Lebendige unverfügbar.

Zum Wesen der Natur und des Lebens gehört die ständige, gesetzmäßig ablaufende Wandlung: "Der Apfel fällt / wie ein gerechter Spruch / der Jahreszeit". Einen großen Raum ihres Werkes nehmen konzentrierte, aphoristisch kurze Gedichte ein. Die sprachliche Verknappung führt nicht zu Formelhaftigkeit. Im Bild, im Augenblick ist die Situation eingefangen und in ihrer Sinnenfülle erhalten. Die starke innere Spannung der Gedichte, nicht nur der kurzen, und ihre großer Ernst tragen zur Bedeutung dieser Poesie bei. Neben den Vögeln ist die Sonne einer der Hauptgegenstände der Gedichte. Sie ist fast so etwas wie das Urmuster des Daseins, Leben spendend und Leben verschlingend. "Die Sonne / ein unerbittlicher Treiber / peitscht die Erde / durch das All / bis sie weißglüht // dennoch / bringt sie / Bäume hervor / wunderbare Wesen".

Anise Koltz wurde am 12. Juni 1928 geboren. Ihre ersten Veröffentlichung waren 1957 Märchen für Kinder. Ihr erster Gedichtband 1959 enthielt bereits alle wichtigen Themen und Motive, die das schmale Werk durchziehen

Jürgen Israel

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 24 des 48. Jahrgangs (im Jahr 1998).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 14.06.1998

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