Zukunft des Christentums im säkularisierten Deutschland
Tag der Akademie
Magdeburg (dw) - Worin liegt die Zukunftsperspektive des Christentums im säkularisierten Deutschland? Diese Frage stand am 7. Juni im Mittelpunkt des ersten "Tages der Akademie" im Bistum Magdeburg. Aus unterschiedlicher Perspektive versuchten vier Wissenschaftler eine Antwort zu geben.
Dr. Ruth Kölblin, Vorsitzende des Personalrates der Uni Jena:
Die Kirche muß offener, demokratisierter und gesellschaftskritischer werden. Offene Kirche bedeutet in erster Linie einladende Kirche. Offenheit wäre aber auch wünschenswert in Bezug auf Moralvorstellungen und Inhalte. Die Verkündigung sollte die Situation der Menschen mit aufgreifen, offene Diskussionen zulassen. Es gibt aus der Vergangenheit gute Beispiele, daß Kirche Einsichten verändert hat, ohne daß gleich Fundamente wackeln.
Kirchliche Mitarbeiter sollten mehr Kompetenzen bekommen, Laien müßten bei der Bestellung von Amtsträgern mitwirken. Im Westen erweckte die Kirche oft den Anschein, im Verbund mit den Mächtigen zu stehen. Das Wirtschafts- und Sozialwort der Kirchen war in dieser Hinsicht eine Umkehr. Wahrheiten müssen ohne Rücksicht auf politische Konstellationen verkündet werden. Christen sollten öffentlich wieder stärker positiv wirksam werden. Das Engagement der Kirchen zur Wendezeit war ein guter Ansatz, ist aber schon wieder in Vergessenheit geraten. Gute Anfänge im Sinne des Wirtschafts- und Sozialwortes gibt es: Arbeit wird in kirchlichen Betrieben geteilt, Lehrstellen geschaffen, Grundstücke preiswert für Wohnungsbau zur Verfügung gestellt.
Die Kirche hat es allerdings schwer. Gelebter christlicher Glaube hat viel von seiner Überzeugungskraft eingebüßt. Es wird kaum noch nach den Quellen gefragt, aus denen heraus ein Mensch lebt und handelt. Zudem klaffen Kirche und Evangelium im Bewußtsein vieler Menschen auseinander. Letztendlich verdanken wir unseren Glauben und die Kirche ihre Zukunft der Gnade Gottes. Diese Überzeugung sollte uns Trost, Kraft und Vertrauen schenken.
Professor Jan Sokol, Bildungsminister in Tschechien:
Jahre der sozialistischen Propaganda haben in Tschechien wie in Ostdeutschland eine feindliche Stimmung dem Christentum und der Religion gegenüber erzeugt, die auch weiter wirkt. Deshalb muß auch Mission tiefer ansetzen, als in einem nur "gott-losen" Milieu. Christen sollten neu entdecken, daß Religion in erster Linie Ausdruck von Dankbarkeit ist, einer Dankbarkeit für alles, was man weder kaufen noch verdienen kann: das Leben, die Sonne, Glück, Gesundheit, Liebe, Kinder, Freunde... Religion ist eine einzigartige Möglichkeit, darauf Antwort zu geben. Religiös ist der Mensch, der gemerkt hat, daß all dies kein Grundrecht ist, sondern "Gnade". Die christliche Theologie, die jahrhundertelang nur die Erlösung allein in den Vordergrund gestellt hat, muß auch die Schöpfung neu werten lernen und die Welt als Gabe Gottes stärker ins Bewußtsein rücken.
Lebendige christliche Themen wie Liebe, Reue, Vergebung, Großzügigkeit, Treue und Unermüdlichkeit müßten wieder geweckt werden. Die Kritik Nietzsches, daß die Christen erlöster aussehen müßten, damit er an ihren Erlöser glauben könnte, ist eine gute Parole für die Zukunft. Ein Vorschlag: Das Gebet "Veni sancte spiritus" sorgfältig meditieren (Gotteslob 244).
Professor Josef Nolte, Kulturhistoriker aus Hildesheim:
Christen müssen sich hüten, "Feldkapläne der Demokratie" zu sein. Sie müssen sich verstärkt mit ihrem Eigentlichen befassen, der Gottesverehrung, Daseinsvertiefung und Menschenliebe. Notwendig ist eine Transformation des Christentums in Richtung auf Christ-Sein. Die christlichen Gemeinden sollten zusammen mit der Kirchenleitung und Theologie das historische Erfahrungspotential zurückgewinnen und aktualisieren, das ein früheres Christentum und die mit ihm verschwisterten Offenbarungsreligionen vor und neben den staatskirchlichen Erscheinungsformen gewonnen haben. Dazu gehört die fast über 2000 Jahre alte Diaspora-Erfahrung des Judentums ebenso wie die Selbsterinnerung des Christentums an die eigenen Missions- und Anfangszeiten. Die Kirche ist an die Weisung und Verheißung gebunden, daß nur, wer zur Hingabe und zum Verlust bereit ist, das Leben behält. Der Christ muß wissen, daß sich nur in der wissenden und gläubigen Annahme dieser Einsicht ein Christ-Sein vollzieht und daß er nur auf diese Weise seiner primären Bestimmung genügt, die darin besteht, Gott Gott sein und den Menschen Mensch werden zu lassen.
Professor Erhard Forndran, Politikwissenschaftler aus Magdeburg: In einer Zeit des abnehmenden Gemeinsinns und des wachsenden Egoismus sollten Christen in der demokratischen Gesellschaft die Möglichkeiten der Beteiligung nutzen, und zwar nicht nur auf einer "vertikalen" Ebene, zum Beispiel durch Teilnahme an Wahlen, Engagement in Parteien oder Wahrnehmung des Demonstrationsrechtes. Noch wichtiger ist die "horizontale" Ebene, die darin besteht, in der Familie, im Verein, am Arbeitsplatz, in der Nachbarschaft und in anderen Lebensbereichen als Christ zu leben und dabei Vorbildfunktion zu übernehmen.
Dies setzt eine starke Persönlichkeit voraus, die Fähigkeit zur Eigeninitiative, zu gelebter sozialer Verantwortung, zur Toleranz gegenüber Fremden und zu nahezu in Vergessenheit geratenen Haltungen wie dem Dienen.
In der Plenums-Diskussion, die den Statements der vier Wissenschaftler folgte, wurde wiederholt das Phänomen eines "anonymen Christentums" und eines "unreflektierten Atheismus" in Ostdeutschland angesprochen: Häufig werden christliche Begriffe verwendet und christliche Haltungen an den Tag gelegt, ohne daß deren christliche Herkunft bekannt ist. Menschen bezeichnen sich als Atheisten, ohne sich jemals mit Religion auseinandergesetzt zu haben. Mit religiöser Bildung allein sei dieses Phänomen nicht zu überwinden, waren sich viele Teilnehmer des Akademie-Tages einig. Die Ebene der Vernunft sei lange Zeit sehr überbetont worden. Die Kirche müßte sich in wachsendem Maße der emotionalen Aspekte der Religion bewußt werden.
Rund 150 Gäste waren der Einladung zum Tag der Akademie gefolgt. Akademie-Direktor Hans-Joachim Marchio bezeichnete die Veranstaltung im Roncalli-Haus Magdeburg als Abschluß der Akademie-Gründung im Bistum Magdeburg. Der Tag, der in diesem Jahr am St.-Norbert-Fest begangen wurde, soll zu einer Tradition werden. Zum Auftakt hatte Bischof Leo Nowak mit den Teilnehmern in der St.-Sebastian-Kirche eine heilige Messe gefeiert.
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 14.06.1998