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Aus der Region

Ein Glaube, der am Menschen anknüpft

Interview mit dem Erfurter Theologen Ullrich

Lothar Ullrich Insgesamt 36 Jahre hat der Erfurter Theologe Lothar Ullrich Theologiestudenten die Glaubenslehre der katholischen Kirche vermittelt. Seit mehr als drei Jahrzehnten engagiert sich der gebürtige Berliner zu dem für die Einheit unter den Konfessionen. Im Sommer vergangenen Jahres wurde der heute 69jährige an der Theologischen Fakultät Erfurt emeritiert. Nun hält der Dogmatiker am 26. April seine offizielle Abschiedsvorlesung. Neue Aufgaben werden ihn im Herbst und im Sommer 2002 an die Theologische Fakultät im polnischen Katowice führen. Der Tag des Herrn sprach mit Lothar Ullrich.

Herr Professor, 26 Jahre als Ordinarius für Dogmatik und vorher schon als Dozent für dieses Fach tätig, haben Sie sich gemüht, jungen Leuten Gott und die Lehre des Glaubens an ihn nahe zu bringen. War dies mehr Lust oder mehr Last in einer Zeit, in der scheinbar wenig nach Gott Ausschau gehalten wird?

Drei Fächer haben mich von Anfang an interessiert: Die Dogmatik, die ich bei Otfried Müller, einem sehr engagierten Professor, kennen gelernt habe, die Liturgiewissenschaft und das Neue Testament. Die Dogmatik ist meine Aufgabe geworden. Wenn man selbst in der Lehre tätig ist, ist der Kontakt zu den Studenten eine sehr frohmachende Sache, weil man spürt, etwas weitergeben zu können. Da ich meinen Dienst immer mit Engagement gemacht habe, ist mir der Abschied vom Lehrstuhl schwer gefallen. Ich habe aber gemerkt, dass jüngere Leute an die Front müssen und so meinen Platz gern übergeben.

Wer wie ich die Glaubenslehre der Kirche vorzutragen hat, findet in Jesus Christus und seinem Gebet zum Vater ein Geländer, von dem er erwarten darf, dass es ihn nicht in die Irre führt. Gott ist ein Geheimnis, das größer ist als unser Herz, das größer ist, als es je gedacht werden kann. Wer und wie Gott ist, wird aber an Jesus von Nazaret deutlich, der der Sohn Gottes ist. Auch wenn wir in einer Gesellschaft leben, in der höchstens 30 Prozent Christen sind, ist die Gottesfrage nicht direkt erledigt, jedoch verhüllt. Deshalb muss man damit rechnen, dass das, was man rüber zu bringen versucht, immer nur Fragment ist. Auf dem Hintergrund unserer Situation habe ich immer zu reflektieren versucht, was eine Diaspora-Theologie ausmachen könnte. Meine Lösung, die ich versuche zu leben: Gott gibt jedem die Chance zum Heil zu kommen, wie das Zweite Vatikanische Konzil sagt. Aber wir sind gefordert, stellvertretend für die anderen vor Gott zu treten. Nur so ist christliche Existenz in nichtchristlicher Umwelt möglich. Das gibt einem Rückhalt, damit man hinsichtlich der Frage nach Gott in der Situation unserer Gesellschaft nicht verzweifelt.
Nicht zuletzt auf dem Hintergrund der Diaspora-Erfahrungen mühen Sie sich seit mehr als 30 Jahren um die theologische Annäherung zwischen den Konfessionen. Ein vorerst letzter Erfolg war die Unterzeichnung der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre. Auf welchem Niveau der Annäherung befinden sich die Kirchen dadurch inzwischen?
Es ist nicht ganz einfach zu sagen. Es ist eine gemeinsame Erklärung zwischen der Katholischen Kirche und dem Lutherischen Weltbund, also einem Teil der evangelischen Kirchen. Im Ökumenismusdekret des Zweiten Vatikanums wurde anerkannt, dass die nichtkatholische Kirchlichkeit in den verschiedenen Konfessionen auch ein Weg zum Heil ist. Aber diese getrennten Wege sollte man bündeln. Mein Einsatz für die ökumenische Bewegung hat in der Zeit des Konzils begonnen. Persönliche Freundschaften mit evangelischen Theologen haben die ganze Sache befördert. Wenn man einen Menschen in seinem Christsein als authentisch empfindet, sieht man ihn mit anderen Augen als wenn man nur Dogmatik treibt. Im interkonfessionellen Dialog sind uns als Kirchen so Einsichten aus der Vergangenheit zugewachsen, die verschüttet waren. Mit der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre ist genau an dem Punkt, an dem die Reformation Martin Luthers angesetzt hatte und der dann zur Trennung im Abendmahl führte, eine Einheit erreicht worden, die man nicht für möglich gehalten hätte: Es besteht Übereinstimmung darin, dass der Mensch der Barmherzigkeit Gottes vertrauen und sich ihm anvertrauen darf. Und dass daraus die Gemeinschaft mit dem Heiligen Geist und mit Christus und mit dem Vater erwächst. Und auch, dass der Heilige Geist uns aufruft zu guten Werken. Dabei bleibt der jeweilige katholische beziehungsweise evangelische Akzent bestehen, es wird kein Profil abgeschliffen. Wir erkennen aber einander an, dass es Möglichkeiten der Einigung gibt. Aber: Während der Rezeption (Aneignung) dieser Gemeinsamen Erklärung in den Kirchen gab es Irritationen, sowohl bei einigen katholischen Vertretern, die in der Erklärung den Ausverkauf des Katholischen sahen, als auch bei einer Reihe protestantischer Theologen, die einen Konsens in der Rechtfertigungslehre abstritten. Das heißt, wir haben einen Konsens erreicht, von dem ich überzeugt bin, dass er trägt und ein Meilenstein in der Ökumenischen Bewegung ist, der aber nicht von allen als Meilenstein anerkannt wird.
Das Abendmahl können Christen auch weiterhin nicht gemeinsam feiern ...
Bei der von vielen ersehnten eucharistischen Gemeinschaft bleibt es kritisch, weil hier sehr stark das Kirchen- und Amtsverständnis berührt ist. Und da hat leider die jüngste Verlautbarung der Glaubenskongregation, Dominus Iesus, Irritationen hervorgerufen. Auf der einen Seite ist es eine Illusion, die Fragen nach dem Verständnis des Bischofs- und Priesteramtes in Sachen Ökumene ausklammern zu wollen. Auf der anderen Seite hätte man in dem Dokument vielleicht stärker auch die bisher erreichten Annäherungen registrieren müssen. Dominus Iesus ist aber eine Mahnung, nicht nachzulassen, uns zu fragen, ob unser Amtsverständnis nicht dahingehend geöffnet werden könnte wie bei der Gemeinsamen Erklärung. Die Schwierigkeit ist die Apostolische Sukzession, also die ununterbrochene Weitergabe des Amtes durch Handauflegung. Und darum gehen gegenwärtig die nationalen und internationalen Gespräche.
In welche Richtung könnte sich in dieser Frage denn eine Lösung ergeben?
Das weiß ich auch noch nicht. Aber sicher werden wir den Dialog weiterführen müssen, um das gemeinsame Fundament unserer Amtsauffassungen herauszustellen und so einen Weg zur Einheit zu suchen.
Die Ökumene, so wird allgemein gesagt, sei seit der Wende in unseren Breiten schwieriger geworden. Teilen Sie diese Auffassung?
Der Level der Ökumene war auch in der DDR nicht überall gleich. Den Unterschied zu damals hat mein Kollege Franz Georg Friemel so formuliert: Damals war Eiszeit, jetzt ist alles wieder aufgetaut und die alten Kontroversen sind wieder da. Jemand anderes hat gesagt: Wir haben damals Ökumene mit dem Rücken an der Wand gelebt. Das heißt, wir waren uns einig, dass in einer Situation des staatlich verordneten Atheismus die Gläubigen näher zusammenrücken müssen. Doch es gab auch damals eine entscheidende Schwierigkeit: Die kirchenpolitischen Optionen in der katholischen und in der evangelischen Kirche waren nicht dieselben. Ich erinnere nur an die Zielvorstellung mancher evangelischer Christen, eine Verbesserung des Sozialismus herbeiführen zu wollen. Die nichttheologischen Faktoren wirkten sich auch damals hinderlich auf die Ökumene aus. Ich halte sie übrigens für viel stärker als die theologischen. In der Wendezeit war dann die politische Option im großen ganzen unterschiedlich. Damit war manches vorprogrammiert.
Der Unterschied ist also gar nicht so gravierend zur DDR-Zeit ...
Ich denke, nicht. Nur das Milieu des Kulturprotestantismus, das heute wieder sehr stark herrscht, ist anders als das einer bekennenden Kirche etwa in der Nazizeit. Mit einigen evangelischen Kollegen sind wir allerdings der Ansicht, dass die stark nichtchristlich geprägte Situation in Mittel- und Ostdeutschland eine spezifische Form der Ökumene erfordert, die alle Suchenden zu Verbündeten macht. Vielleicht wird uns die Einheit einmal so geschenkt, wie die Wiedervereinigung Deutschlands. Erzwingen können wir sie nicht. Neulich hat eine Politikerin gesagt: Wir brauchen ein Europa ohne Kränkungen. Das würde ich auch auf die Kirchen übertragen: Wir brauchen eine Ökumene ohne Kränkungen. Das heißt, es muss immer wieder das Bestreben sein, die eigene Meinung so darzustellen, dass es dem anderen verständlich ist, dass diese Position von mir im Augenblick nicht anders dargelegt werden kann, dass dies aber kein Angriff auf die Kirchlichkeit des anderen bedeutet. Und da ist auf beiden Seiten noch Fingerspitzengefühl zu entwickeln.
In unserer Kirche gibt es ein Ringen um die theologische Grundrichtung, dies wurde zum Beispiel auch an Dominus Jesus deutlich. Ist dies eine ganz normale Erscheinung für das Weltunternehmen Kirche oder ist dieses Ringen in letzter Zeit ein bisschen krass geworden?
Die Sorge um die Einheit ist natürlich stärker geworden und insofern vielleicht auch das Ringen. Manchmal sind auch einzelne Theologen daran mit Schuld, wenn sie meinen, sie hätten schon die Wahrheit. Wenn man dann aber die Gesamtsituation der Kirche betrachtet, sieht manches eben doch anders und verschieden aus. Ein mahnendes Wort kann schon angebracht sein. Aber: Das Zweite Vatikanische Konzil war ein großer Schritt nach vorn und wir dürfen dahinter nicht zurückfallen. Ich habe als junger Mann von 1962 bis 1965, als das Konzil lief, Dogmatik doziert. Ich erinnere mich noch, als die Liturgiekonstitution als eines der ersten Dokumente des Konzils kam, habe ich die ganze Nacht den lateinischen Text gelesen und war ganz high - würde man heute sagen - weil ich bestätigt fand, was meine Lehrer mir schon vermittelt hatten und was wir versuchten, weiterzugeben. Dies war die Grundstimmung des Konzils. Die Texte waren eine Befreiungstat. Aber: Sie waren auch ein Stück Kompromiss - gerade auch in den Darlegungen über die Kirche in der Kirchenkonstitution "Lumen Gentium". Die hinter den Kompromissen stehenden Probleme, die nicht ausgeräumt worden sind, zeigen sich jetzt wieder.
Worum geht es dabei zum Beispiel?
Es war damals eine Entdeckung, dass die Kirche eine Communio ecclesiarum, eine Gemeinschaft von Ortskirchen ist. In der aktuellen Diskussion zwischen Joseph Ratzinger und Walter Kasper geht es darum, ob die Universalkirche die Priorität hat oder die Einzelkirche. Ratzinger sagt: Es ist die Gesamtkirche, in die die Einzelkirchen hineinführen. Man kann aber auch sagen: Die Einzelkirchen bilden das Netz, das die Gesamtkirche aufbaut. Ich glaube, es wird immer das eine oder das andere den Vorrang haben. Auf der einen Seite steht das Bischofsamt, auf der anderen Seite der Papst. Da entstehen Spannungskräfte, die dem Glauben aber nicht schaden, sondern Ideen freisetzen. Diese werden, wenn sie sich bewährt haben, von der Gesamtkirche aufgenommen. Aber dies darf nicht in einer Situation des Streites und Recht-haben-Wollens ablaufen.
Schaut man sich in unserem Umfeld um, kann man zu dem Schluss kommen, dass viele Menschen ohne Religion ganz gut klarkommen. Teilen Sie diesen Eindruck?
Ich teile diesen Eindruck nicht ganz. Ich kenne einen ganzen Teil von Menschen, die sagen: Religion schon, aber nicht institutionalisiert. Die Frage einer religiösen Sinngebung des eigenen Lebens ist ein Geschenk Gottes. Aber auch Menschen ohne Religionszugehörigkeit erfahren Sinn. Ich denke an Freunde, an denen sich mancher Christ ein Scheibchen abschneiden kann. Für mich ist nach wie vor Matthäus 25 "Was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan" der Maßstab des Gerichtes und nicht der lehrmäßige Glaube und eine bestimmte religiöse Übung. Das sieht aufs erste wie ein Gericht nach den Werken aus, ist aber ein Gericht nach den inneren Intentionen des Menschseins und der Glaubenspraxis. Wenn jemand den Mitmenschen ernst nimmt, richtet er sein Tun auch auf Gott hin aus, weil der Mensch Gottes Ebenbild ist. Solange einer sucht und den Weg des Menschseins so geht, kann ich ihm eine Nähe zu Gott nicht absprechen - ohne dass ich ihn vereinnahmen darf. Der Weg zu Gott ist der Weg über den Menschen.
Liegt nicht ein besonderes Problem heutiger Glaubensvermittlung darin, dass wir eine Situation haben, in der viele gar nicht nach Gott fragen, eine Situation, die es noch nie gab?
Aber ist sie so fundamental anders? Es gibt nur den Weg von Mensch zu Mensch. Also ein Zeugnis des Lebens gepaart mit einer gewissen Plausibilität dessen, was man von Gott und der christlichen Botschaft denkt. Dort, wo nichtglaubende Menschen Christen begegnen, wird es für sie in der Regel gut sein, wenn sie einen fragenden Glauben antreffen. Ein Glaube, der nicht auf alles gleich Antworten hat. Der an den Situationen des Menschseins anknüpft und zeigt, dass das reine Menschsein auch in Ausweglosigkeiten führt, die nicht zu lösen sind. Gerade diese Aporien sind aber Einfallstore für die Verkündigung des Geheimnisses.
Im 20. Jahrhundert gab es wie auch in den Zeiten davor verschiedene theologische Ansätze. Genannt seien zum Beispiel die anthropologisch orientierte Theologie Karl Rahners oder die Befreiungstheologie. Wie steht es derzeit um spezielle theologische Ansätze?
Im Augenblick scheint die Stunde der großen Leute wie Joseph Ratzinger, Karl Rahner oder Hans-Urs von Balthasar vorbei zu sein. Aber es wird sicher auch künftig eine Vielfalt von Theologien geben und den einen Glauben. Entscheidend aber ist immer die Praxis des Glaubens. Wenn einer nicht mehr betet, wenn einer sich nicht an die Gebote hält, dann kann er auf die Gottesfrage keine Antwort geben.

Interview: Eckhard Pohl

www.uni-erfurt.de/theol

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 16 des 51. Jahrgangs (im Jahr 2001).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Mittwoch, 18.04.2001

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