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Aus der Region

Schule weckt Neugier aufs Leben

Montessori-Schulzentrum

Ruhiges Murmeln liegt im Klassenraum der Regenbogengruppe. 19 Kinder im Alter vom 6 bis 10 Jahren sitzen alleine oder in kleinen Gruppen an ihren Plätzen und lesen, schreiben oder lösen Rechenaufgaben. Die Drittklässlerin Julia sitzt still an ihrem Tisch und kennzeichnet "Tuwörter und Sachwörter" mit Kreisen oder Dreiecken. Der neunjährige Michael erklärt stolz seine kleine naturkundliche Sammlung, die er aus dem letzten Italienurlaub mitgebracht hat. Gerne würde er seine Pinienzapfen, Feigenblätter und Eukalyptuszweige abzeichnen, aber jetzt ist Freiarbeit, und da muß er schreiben und rechnen.

Das fällt dem achtjährigen Aaron etwas leichter. Logo, denn bei den Lieblingsfächern Mathe und Sport ist schriftliches Dividieren "total einfach". Nur selten muß Schulleiterin Maria kleine Hillmann mit sanft mahnenden Worten in die friedvolle Atmosphäre eingreifen, um ihre Schüler zur Arbeit anzuhalten.

Die Titanic war ja riesig", staunt der siebenjährige Maximilian, der sich ein Sachbuch mit Ozeanriesen anschaut. Natürlich kennt er die Geschichte ihres Untergangs genau: "Der Eisberg war einfach zu breit ..." Frank, zehn Jahre alt, schaut von seinem Buch auf und will wissen, was eigentlich los ist. Frank ist blind und läßt sich von seinem Tischnachbarn über den unbekannten Besucher aufklären. Den bevorstehenden Weltraumflug seines Lieblingshelden "Alfons Zitterbacke" kurz außer acht lassend erläutert er fachmännisch das Prinzip der Blindenschrift. Über eine Blindenschreibmaschine kann er schriftliche Aufgaben seiner Lehrerin entgegennehmen, selber schreiben und ein bißchen zeichnen.

So oder ähnlich geht es jeden Morgen zu in der Grundschule des 1993 gegründeten Leipziger Maria-Montessori-Schulzentrums, wo die Schüler aller Jahrgänge in den Fächern Deutsch und Mathe gemeinsam in "Freiarbeit" unterrichtet werden.

"Während der Freiarbeitsphasen tritt der Lehrer ganz zurück, bietet verschiedene Materialien an und gibt nur die nötigsten Anleitungen", erläutert Maria kleine Hillmann. Dabei gelte das Motto der Montessori-Pädagogik "Hilf’ mir, es selbst zu tun”. So suchen sich die Schüler ihre Arbeitsmaterialien selbst aus und arbeiten möglichst alleine daran. Eiserne Regeln sorgen dafür, daß der Unterricht nicht in Chaos ausartet: Das, was angefangen wird, muß auch zu Ende gebracht werden, es darf nur im Flüsterton gesprochen werden und alle Materialien sind nur einmal da, so daß sich die Kinder untereinander abstimmen müssen. Disziplinlosigkeit ist hier fehl am Platze.

Auch in der Mittelschule des Schulzentrums spielt die Freiarbeit eine große Rolle: Die Schüler bekommen bestimmte Aufgaben, die sie bis zu einem festen Termin erledigen müssen. "Wenn wir in der Freiarbeit mal faul waren, müssen wir die Aufgaben zu Hause machen; wenn wir da auch faul waren, müssen wir auch mal nachsitzen", erklärt Georg aus der 5a die Regeln.

"Für Schüler, die sonst den Frontalunterricht gewöhnt waren, ist es schwierig, sich die Freiarbeitsstunden einzuteilen", betont Regina Nothelle, Schulleiterin der Mittelschule. "In vielen Regelschulen wird sehr restriktiv und mit Druck gearbeitet", klagt sie. Die Freiarbeit sei ein Versuch, diesen Druck von den Kindern zu nehmen, damit sie Verantwortung für sich und ihr Handeln übernehmen können. Die drei Lehrerinnen der Mittelschule nutzen die acht Freiarbeitsstunden in der Woche auch zum Lösen von Konflikten, so daß die Schüler mit sozialem Verhalten vertrauter werden.

Die Arbeitsmaterialien der Montessori-Schule richteten sich nach dem Grundsatz: "Was erst durch die Hand gegangen ist, ist auch im Kopf", so Maria kleine Hillmann. Das Anfassen habe dabei eine hohe Bedeutung. Zudem bieten die Materialien eine selbständige Fehlerkontrolle. So arbeiten die Kinder mit Legekarten, Karteikästen oder Wortpuzzles. Matheaufgaben werden mit Rechenschiebern oder Perlenketten verdeutlicht.

Ein Grundgedanke der Montessori-Pädagogik ist die Annahme bestimmter Zeiträume in der Entwicklung, in denen das Kind besonders empfänglich ist für den Erwerb einer bestimmten Fähigkeit. Diese "sensiblen Phasen" sollen durch die Freiarbeit und die speziellen Arbeitsmaterialien optimal genutzt werden.

Die Montessori-Materialien sollen das Kind ansprechen und anregen, damit umzugehen. Durch Vergleichen, Paaren und Unterscheiden soll das Kind komplexe Zusammenhänge begreifen. Die Materialien stellen bestimmte Problemstellungen isoliert dar und helfen dem Kind, sein Lernen zu gliedern. Die freie Wahl der Tätigkeit soll dem Kind erlauben, seinen eigenen Rhythmus zu finden und selbständige Entscheidungen zu treffen. Auf diese Weise wird die Entwicklung der Kinder gefördert.

Viel Wert legt die Montessori-Schule auf die Integration behinderter Kinder: Von 65 Kindern der Grundschule sind 12 behindert oder verhaltensauffällig. Das Schulzentrum in der Trägerschaft des Bistums Dresden-Meißen befindet sich nach wie vor im Aufbau. Die Grundschule wird erst im nächsten Schuljahr um die vierte Klasse erweitert. Die Mittelschule mit derzeit 39 Schülern bekommt eine weitere fünfte Klasse.

Leonhard Herrmann

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in Ausgabe 28 des 48. Jahrgangs (im Jahr 1998).
Aufgenommen in die Online-Ausgabe: Sonntag, 12.07.1998

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